„Spanien ist kein Geheimnis“

URS SIEGENTHALER Der Spielerbeobachter des DFB-Teams erklärt, weshalb der Erfolg der deutschen Mannschaft Ergebnis eines wohl überlegten Plans ist und weshalb das Spiel der Spanier dem Ideal von Jogi Löw entspricht

62, ist Schweizer und seit 2005 Spieleleser der DFB-Auswahl. Seine Gegner-Analysen sind Grundlage der Taktik von Joachim Löw. Hinter ihm liegen eine kurze Karriere als Fußballer, eine noch kürzere als Trainer des FC Basel und ein bürgerliches Berufsleben als Bauingenieur. Sein Spielverständnis gab er lange als Leiter der Schweizer Trainerausbildung weiter. Ab August kümmert er sich um die Nachwuchsarbeit des Hamburger SV.

INTERVIEW ANDREAS RÜTTENAUER

taz: Herr Siegenthaler, kann Sie Spanien noch überraschen?

Urs Siegenthaler: Mich? Ich denke, nicht. Nein. Ich glaube, die Spanier sind von uns überrascht.

Wie oft haben Sie Spanien beobachtet?

Wir kennen die Spieler alle aus der Champions League. Also wir wissen wirklich, was auf uns zukommt. Spanien dürfte für uns kein Geheimnis mehr sein. Dem Bundestrainer geht es hier nur noch um Details. Wir wissen, wie Iniesta spielt, wir kennen Xabi Alonso. Wir kennen Torres, Xavi. Das kann schlichtweg kein Geheimnis sein.

Hat Sie denn die deutsche Mannschaft überrascht?

Das soll jetzt nicht überheblich klingen. Aber aufgrund der intensiven Vorbereitung seit Januar, Februar, aufgrund dessen, was sich der Trainer vorgenommen hat, ehrlich gesagt: nein. Wenn man strategisch arbeitet, so wie es der Bundestrainer macht, dann macht man auch Fortschritte. Ich stelle da immer einen Vergleich an. Wenn wir zwei acht Wochen lang in einen Englischkurs gehen, dann ist es fast zu 100 Prozent sicher, dass wir beide hinterher besser Englisch sprechen. Wir müssen nur hingehen und wir brauchen einen guten Lehrer, der uns da Schritt für Schritt hinführt.

Der Erfolg ist also planbar?

Davon bin ich zu hundert Prozent überzeugt.

Sie waren sich schon vor dem Turnier sicher, dass sich bei der WM der Offensivfußball durchsetzen wird. Warum eigentlich?

Wenn wir das Fußballfeld in vier Viertel aufteilen, dann stellen wir fest, dass in den ersten drei Vierteln mittlerweile alle 32 Mannschaften sehr gut sind. Im letzten Viertel ganz vorne aber – ich nehme jetzt mal Holland, Spanien und Deutschland aus – haben alle Probleme.

War das schon immer so?

Gehen wir nur ein bisschen zurück in der Historie. Da hat sich jeder Trainer mit der Defensive beschäftigt. Verschieben, aufrücken, eng stehen, kompakt stehen, das sind ja Schlagworte, die mittlerweile jeder kennt. Mit denen könnten auch Sie sicher eine Jugendmannschaft übernehmen. Aber wir haben uns lange zu wenige Gedanken über die Offensive gemacht.

Warum?

Das ist unheimlich schwer zu unterrichten. Da sind uns andere Sportarten voraus. Im Handball, Basketball, Eishockey, da sind die Spielzüge förmlich einstudiert. Ich weiß, dass das im Fußball nicht so einfach ist, aber es haben sich einfach zu wenige Offensivtrainer damit beschäftigt.

Das hieße ja, dass wie in Jugendmannschaften gespielt wird, wo alle nach vorne laufen, um ein Tor zu erzielen.

Ich kann ihnen Szenen zeigen, da stehen sechs Mann im Zentrum und rennen dem Ball nach und links und rechts steht kein Mensch.

Bei den Spaniern ist das anders.

Das, was Spanien zeigt, das entspricht sicher der Idealvorstellung des Bundestrainers von Fußball.Und die sind schon lange gut. Die waren U17-Weltmeister, U19-Europameister. Das ist sicher eine goldene Generation.

Haben sich die Spanier denn weiterentwickelt in den letzten zwei Jahren?

Die letzten fünf Prozent aus einer Zitrone zu pressen ist verdammt hart. Die Spanier sind natürlich unheimlich gut, die haben eine riesige Ordnung auf dem Platz, die Mannschaft ist nicht überheblich, aber sie weiß, was sie kann.

Sie beschäftigen sich auch immer mit den Mentalitäten der gegnerischen Mannschaften. Wie beurteilen Sie da die Spanier?

Mir ist bei meinen Reisen nach Spanien immer aufgefallen, dass die Leute sehr korrekt, auch sehr traditionsbewusst sind. Sie sind auch nie unfair. In Barcelona etwa, da gibt es nie ein Skandalspiel. Wenn die verlieren, dann verlieren sie und gratulieren dem Gegner.

Gibt es Nationalmannschaften, deren Mentalität der ihrer Nation widerspricht?

„Wenn man strategisch arbeitet, so wie es der Bundestrainer macht, dann macht man auch Fortschritte“

Nein. Unter Druck greifen immer alle auf das zurück, was sie im Grunde ausmacht.

In welches Verhaltensmuster könnte denn die deutsche Mannschaft unter Druck zurückfallen?

Quer spielen. Weite Bälle nach vorne schlagen. Bringen wir es auf einen Nenner: das Spiel verwalten statt das Spiel spielen. Es ist eine der größten Aufgaben des Bundestrainers, genau das zu verhindern.

Und die Spanier, in welche Muster könnten die zurückfallen?

Ich will und kann jetzt darüber nichts sagen. Aber ich glaube schon, dass ich dem Bundestrainer zwei, drei gute Hinweise geben kann.

Sie gelten als kongenialer Zuarbeiter von Joachim Löw. Können Sie sich vorstellen, für einen anderen Trainer zu arbeiten, für Diego Maradona etwa?

Nein! Die Stelle würde ich nicht annehmen.

Aber die Engländer könnten Sie schon besser machen?

(lacht) Mit Joachim Löw zusammen, ja.