DER BLICK DER BOHEME
: Inszenierter Tabubruch

Samstag, wenige Stunden vor dem Deutschland-Spiel: Ich bestelle in einem Brandenburger Café zum Espresso ein Glas Leitungswasser. „Leitungswasser haben wir nicht“, antwortet die Kellnerin. Ich muss ein Glas Wasser aus der Flasche kaufen. Ein paar Minuten später setzt sich ein Herr mit Hund an den Nachbartisch. Die Kellnerin bringt dem Hund unaufgefordert eine Schale Leitungswasser und fragt mich, ob alles in Ordnung sei. In Ordnung? Ungläubig starre ich sie an. Ich dachte eigentlich, die Deutschen hätten die erste Lektion in Zivilisationskunde erfolgreich abgeschlossen. Doch nein, das abgeschmackteste Klischee über sie bestätigt sich hier: Noch immer ist ihnen der Hund näher.

Diese Geschichte ist kein Argument gegen die deutsche Nationalmannschaft. Es war schon immer okay, für die deutsche Elf zu jubeln – nicht erst, seit sie auch guten Fußball spielt. Aber zu konstatieren, wie fresh und froh Deutschland geworden ist, ist so was von 2006. Denn Fußball ist Fußball. Über die Frage, wer auf dem Platz wo steht und sich wie bewegt, hat kein Bundestag, kein Bürgerentscheid und kein Volkes Wille mitzureden. Wer aber ernsthaft der Meinung ist, es lasse sich von der Spielfreude der deutschen Fußballer von heute auf die Möglichkeiten der deutschen Gesellschaft von morgen schließen, der irrt. Denn was die deutsche Nationalmannschaft derzeit auf dem Platz zeigt, ist kein Versprechen auf irgendeine bessere Zukunft, sondern bloß eine nachholende Modernisierung – und zwar nicht nur dessen, was die Équipe Tricolore bereits 1998 gezeigt hat: Die bundesrepublikanische Gesellschaft hat die Blutgrätsche gegen Einwanderer längst hinter sich gelassen – lange bevor es der deutsche Fußball getan hat.

Und auch der Fahnenpatriotismus, der seit dem Sommermärchen 2006 nicht mehr im dunklen Hinterhof sich versteckt, sondern ins repräsentative Vorderhaus gezogen ist, hat nur den gleichen Ortswechsel vollzogen, den vorher Einwanderer und ihre kulturellen und religiösen Einrichtungen ganz ohne das Vehikel einer Weltmeisterschaft selbst organisiert haben: selbstbewusst sich selbst repräsentieren. Das war’s. Mehr ist auch aus einer Deutschlandfahne nicht zu holen. Am wenigsten Normalität – jedenfalls nicht solange das Bekenntnis zu Deutschland derart ostentativ gefeiert wird wie gerade unter Linksliberalen weit verbreitet: als Gehabe von Parvenüs, die als Tabubruch inszenieren, was längst Selbstverständlichkeit geworden ist. Für Leute, die ein bisschen mehr wollen, lohnt es sich, die entspannte Rückenlage einzunehmen, eine Zigarette zu rauchen und sich mit einer Spanienflagge Luft zuzuwedeln. Sie werden merken, so billig kriegen sie den Status der Dissidenz nie wieder. DORIS AKRAP