Jetzt im Sommer liegen wir am See

Etwa 40.000 Menschen leben in meinem Heimatstädtchen Oranienburg nördlich von Berlin. Hier gibt es schöne Seen, manchmal Stress mit Skins, ein barockes Schloss von 1652, die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen – und sonst nicht viel zu tun. Wie es sich anfühlt, in einer No-go-Area zu Hause zu sein

von EMILIE PLACHY

„No-go-Area“ ist ein englisches Wort, das jeder versteht, es bezeichnet eine „Hier darfst du nicht hin, es ist zu gefährlich“-Gegend. Ich lebe in so einer Gegend: Oranienburg. Die Stadt, in die so viele Gäste kommen, um die Gedenkstätte Sachsenhausen zu besuchen; die Stadt, die schon einmal, vor über sechzig Jahren, No-go-Area war; die Stadt, die im aktuellen Brandenburgischen Verfassungsschutzbericht als gefährlich für Fremde eingestuft wird.

Wenn ich das höre, schäme ich mich ein bisschen. Ich bin Teil dieser No-go-Area, aber zu mir könnte nun wirklich jeder kommen. Ich halte mich und die Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe, für offenherzig und tolerant – und wir alle leben in dieser Stadt in Brandenburg. Jetzt im Sommer liegen wir am See, essen Eis und haben Spaß. Oder wir hängen in unseren Freistunden am Teich im Schlosspark rum. Das ist unsere Freizeit, ähnlich wie die von vielen Jugendlichen in meinem Alter.

Aber die Sache hat einen Haken: Ab 20 Uhr ist Schichtwechsel, ein ungeschriebenes Gesetz: Alle Menschen mit langen Haaren sollten schleunigst nach Hause, denn jetzt kommen die Faschos. Bitte gehen Sie nach Hause! Ab jetzt ist der Aufenthalt im öffentlichen Raum untersagt! In Ihrem eigenen Interesse! Schließen Sie Fenster und Türen, es gibt hier nichts zu sehen!

Also gehen wir nach Hause. Wir räumen das Feld und überlassen den anderen einen Teil unseres Lebensraums. Nicht nach Hause zu gehen, könnte nur bedeuten, in eine der teuren Bars zu gehen oder sich bei Freunden zu treffen. Also setzen wir uns brav bei Mama und Papa aufs Sofa und gucken den „Fun-Freitag“ auf Sat.1. Draußen haben die Kleinstadtnazis ihren Spaß.

Einen Jugendklub gibt es hier nicht. Selbst wenn es einen gäbe, es ist nicht absehbar, wer da hinginge, Rechte, Linke, Neutrale – Alle sicher nicht, denn dafür gibt es einfach viel zu viele verschiedene Denkrichtungen in dieser Stadt.

Oranienburg liegt so nah an Berlin, dass es sämtliche Jugendbewegungen von dort abkriegt. Aber in Berlin ist Platz für jeden. Hier in meiner Kleinstadt ist es unmöglich, sich aus dem Weg zu gehen. Wir kennen uns alle. Und je älter wir werden, desto besser lernen wir, die Codes zu entziffern. Wer ist gefährlich für mich, mit wem kann ich gut Kirschen essen? Man lernt dazu.

Mittlerweile habe ich gelernt, dass ich abends nicht am Bahnhof rumhängen sollte. Ich habe aber auch gelernt, dass „die Rechten“ mitunter eher bemitleidenswert als fürchtenswert sind; dass diese Leute, denen wir abends unsere Bänke am See, im Park, am Bahnhof überlassen, oft verzweifelt und perspektivlos sind; dass sie nicht wissen, wohin mit ihrer Wut oder auch einfach mit ihrer Dumpfheit.

Vor drei Jahren, da war ich vierzehn, habe ich mal mit einem Mitglied des „Märkischen Heimatschutzes“ diskutiert – vor drei Jahren, da habe ich mich so was noch getraut, heute wäre ich dafür viel zu paranoid. Er war jedenfalls aus der Bowlingbahn rausgeflogen, wir standen draußen, und da legte er mir sein simples ausländerfeindliches und rassistisches Weltbild dar. Irgendwann winkte er ab – ich sei für so was eh noch zu jung. Heute sehe ich ihn mit einem „Lonsdale gegen Rassismus“-T-Shirt rumlaufen.

Als meine Eltern vor acht Jahren gesagt haben, wir ziehen nach Oranienburg, habe ich mich gefreut: Ich würde endlich eine Katze kriegen. Doch je älter ich wurde, desto besser verstand ich, dass das hier nicht irgendein Ort ist. Sondern die Stadt, deren Name in Israel in einen Gedenkstein für die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs geritzt ist. Unvorstellbar viele von ihnen sind hierher verschleppt worden, und sie sind vom Bahnhof aus den Adolf-Hitler-Damm entlang ins Konzentrationslager gelaufen, ganz dicht vorbei an dem Haus, in dem ich heute wohne. Jeder Oranienburger kennt die Geschichte, und jeder verarbeitet sie auf seine ganz persönliche Art, die Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert ständig daran.

Manchmal werde ich gefragt, warum es trotz dieser Vergangenheit hier so viele Rechte gibt. Ich weiß es nicht. Ich sehe nur, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen strammen Nazis und rechten Mitläufern. Echte Faschos sind eher selten, die Mitläufer meist jünger. Wie gefährlich sie gerade sind, hängt ab vom Ort der Begegnung, der Uhrzeit und ihrem Alkoholpegel.

Trotz alledem lebe ich gern hier. Mir bedeutet es etwas, in einer Stadt aufzuwachsen, in der ich mich mit solchen Dingen auseinander setzen muss. Dennoch, Oranienburg ist – wie viele Kleinstädte – nur eine Zwischenstation. Keiner meiner Freunde will hier bleiben, bis er tot ist. Alle wollen zum Studium weggehen oder anderswo eine Ausbildung machen. Was gäbe es hier auch Großartiges zu tun? Da draußen wartet die Welt.

Im Umkehrschluss würde das aber bedeuten, dass die Leute, die hier – aus den verschiedensten Gründen – niemals wegkommen, keine Perspektive hätten. Und dass sie irgendwann in der Mehrheit wären. Eine eher traurige Vorstellung. Aber wenn es keine Perspektiven für sie gibt, müssen eben welche geschaffen werden. Und das funktioniert nur, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Hier und überall.

Nach der Fußball-WM wird kaum noch jemand über No-go-Areas reden. Schade. Denn Oranienburg wird immer noch ein Ort sein, der am Tage ein Freund und in Nacht plötzlich ein Feind sein kann.

Emilie Plachy, 17, ist Schülerin an einem Oranienburger Gymnasium. Sie schrieb diesen Text unter Pseudonym, denn, wie gesagt, man kennt sich