STRASSBURG: 200 MILLIONEN EURO FÜR FRANKREICHS GELTUNGSDRANG
: Parlament in Fesseln – oder doch nicht?

Die Bürgermeisterin von Straßburg bestreitet nicht, dem EU-Parlament jahrlang überhöhte Mietzahlungen abverlangt zu haben. Sie sah darin, ähnlich den Rückstellungen bei AKWs, eine Notreserve für den Tag, wo der Wanderzirkus abgeschafft wird. So einen Notgroschen hätten sicher auch die Taxifahrer, Hotelbesitzer und Catering-Firmen gern, die außerhalb der Touristensaison nur dann zum Leben erwachen, wenn die Karawane aus Brüssel anrollt.

Dürfte das EU-Parlament seinen Tagungsort selbst bestimmen, wäre wohl längst Schluss mit dem Ritual, das alle Beteiligten Zeit und Nerven, vor allem aber die europäischen Steuerzahler 200 Millionen Euro pro Jahr kostet. Obwohl alle Vernunftgründe dafür sprechen, den Parlamentssitz Straßburg aufzugeben, räumte bislang kein Realist dem Vorschlag Chancen ein. Denn Frankreich hat sich zwölf Straßburger Sitzungswochen pro Jahr vertraglich garantieren lassen. Die Verträge können nur geändert werden, wenn alle 25 Mitgliedstaaten einverstanden sind.

Nun will Martin Schulz, SPDler und Chef der zweitgrößten Parlamentsfraktion, die Regierungschefs doch zu einer Änderung der Verträge bewegen. Weil er enge Beziehungen zu Frankreich pflegt und gesunden politischen Realitätssinn besitzt, verdient der Vorstoß mehr Beachtung als die bisherigen Scharmützel der Straßburg-Gegner. Vielleicht sind hinter den Kulissen die Tauschgeschäfte weiter gediehen als bisher bekannt ist.

Einige liberale Abgeordnete haben nämlich angeregt, das Straßburger Parlamentsgebäude als Sitz des geplanten Europäischen Technologie-Instituts zu nutzen. Nach dem Vorbild des amerikanischen MIT soll es europäische Forschungseinrichtungen miteinander vernetzen. Mittelfristig brächte das der Stadt mehr Reputation und beständigere Einnahmen als der monatliche Blitzbesuch von 2.000 gestressten Politikern und Bürokraten. Sicher würden für die Umstellung zunächst Investitionen nötig. Doch für genau diesen Fall hat die Bürgermeisterin ja mit ihrer Mietrückstellung seit Jahren vorgesorgt. DANIELA WEINGÄRTNER