Aus dem Exil an die Macht

Es ist fast auf den Tag ein Jahr her, dass Ali Seidan mit 93 zu 85 Stimmen vom Parlament zum libyschen Regierungschef nominiert wurde. Sein Gegenkandidat wurde von der Partei der Muslimbrüder unterstützt. Somit ist klar, wo der kurzzeitig Entführte politisch steht: er gilt als liberal.

1950 in der Oasenstadt Waddan geboren, stand Seidan in den 70er Jahren im diplomatischen Dienst Libyens. 1980 wandte er sich von Muammar al-Gaddafi ab und ging nach Genf, wo er als Menschenrechtsanwalt arbeitete und mit anderen Oppositionellen die „Nationale Rettungsfront Libyens“ ins Leben rief.

Während der Revolution 2011 war er der Verbindungsmann des Nationalen Übergangsrats in der ostlibyschen Stadt Bengasi zur EU. Ihm wird als Erfolg angerechnet, europäische Staaten überzeugt zu haben, die Übergangsregierung anzuerkennen. Er soll auch eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy von einer Unterstützung der Anti-Gaddafi-Kräfte zu überzeugen.

Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten stellte Seidan eine breit gefächerte Regierung zusammen, um die geografischen und politischen Differenzen zu überwinden. Die Erwartungen an ihn waren enorm: die Milizen der Kontrolle der Regierung zu unterstellen, die Wirtschaft anzukurbeln und Infrastrukturmaßnahmen einzuleiten.

Dass er dies nicht umsetzen konnte, geht im Wesentlichen auf das Konto ebenjener Milizen. In einem Streit über den Umgang mit ehemaligen Gaddafi-Mitarbeitern wurden tagelang Regierungsgebäude besetzt; in Bengasi werden ständig Attentate auf Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte verübt; und im Nordosten des Landes bietet ihm eine Föderalistenbewegung Paroli. Für die Milizen und die Muslimbrüder ist er schon lange ein Gegner, den sie loswerden wollen. BEATE SEEL