ausgehen und rumstehen
: Nur die Luft ist Zeuge

In tiefer Trance wälzen sich am Samstag auf dem Ku’damm die Einkaufenden vorwärts. Ich springe gewohnheitsmäßig Haken schlagend durch die Lücken zwischen den Leuten hindurch, als sich mir plötzlich eine fünfköpfige Familie in den Weg stellt. Händchen haltend nimmt sie die ganze Bürgersteigbreite ein. Ich werde nach links zu einem Baum abgedrängt und muss über Hundescheiße springen.

Rechts ertönt lautes Schimpfen. Am anderen Ende der Familienkette sitzt ein ausgebremster Rollstuhlfahrer und flucht. Der Familienvater hält mächtig gegen. „Was soll ich tun, ich habe nun mal drei Kinder“, brüllt er. „Jeder hat Kinder, ich habe auch welche“, schreit der Rollstuhlfahrer wild. Ich verspüre kurz den Reflex, mich einzumischen und „Ich habe keine Kinder!“ zu brüllen. Die Vorstellung, dass sich der Vater oder der Rollstuhlfahrer zur Produktion anbieten könnten, hält mich zurück.

Am Abend finde ich mich in Kreuzberg zur Langen Buchnacht ein. Ich habe mir einen besonderen Programmpunkt rausgepickt: die blutrünstigen Kurzgeschichten der Sisters in Crime. Die Lesung soll im Wirtshaus Max und Moritz stattfinden, deshalb treffe ich mich zum Auftakt mit Freunden um die Ecke im Würgeengel.

Mit steil zu Kopfe gestiegenen Manhattan Drys, Mai Thais und irgendwas auf Eis laufen wir im rappelvollen Max und Moritz ein. Hier riecht es deutsch. Vielleicht bin ich durch die Cocktails milde gestimmt, jedenfalls tut der Geruch diesmal nicht weh. Zur Lesung geht’s nach hinten durch. Die Schiebetür zum Leseraum macht ein quietschendes Geräusch. Eine Dutzend Köpfe fliegen herum, zwei Dutzend Augen sehen uns genervt an. Wir schleichen in den Lesesaal und versuchen, die Tür leise hinter uns zu schließen, aber das Glas darin klirrt trotzdem. Ein Mann liest von einer Ameise, die sich nicht entscheiden kann, ob sie einen Kuchenkrümel essen soll oder nicht.

Wir wollen lieber Action und gehen nach vorne an die Bar. Als die Ameisenlesung vorbei ist, sichern wir uns vorne im Saal für die Sisters in Crime gute Plätze. Ein Autor wird am Pult in verschiedenen Leseposen fotografiert, ansonsten leert sich der Saal. Dann hören wir, dass die Sisters in Crime oben lesen. Oh. Wir packen eilig unseren Kram und eilen die Treppe hinauf.

Viele Menschen kommen uns entgegen. „Die Lesung ist vorbei“, klärt die Tresenfrau auf und wischt ein Tablett ab. Vorne werden Pult und Lampe abgebaut, vereinzelt stehen Leute herum. Es ist sehr stickig. „Muss voll gewesen sein, die Luft ist Zeuge“, bemerkt eine Freundin kriminalistisch. Wir überlegen, ob wir enttäuscht sein sollen.

KATHARINA HEIN