Der Trick befreit
Verneinen und erfinden

SUBVERSION Im Studium herrscht Druck. Er produziert Ängste. Und Strategien, ihnen zu begegnen: Fantasie, Mogelei, Betrug. Vier Fluchtwege aus vier Jahrzehnten
ACHTZIGERJAHRE Wenn das Bafög-Amt Druck macht, entsteht die Magisterarbeit im Kopf

Anfang der 80er-Jahre war ich in einem Theaterwissenschaftsstudium gestrandet, das außer Nebenschauplätzen nichts bot – und saß in der Bafög-Falle. Hätte ich das Fach gewechselt, hätte man mir das Geld gestrichen. Theaterwissenschaft war mein Schicksal.

Die Perspektive der 80er-Jahre war die Negation, die aus der Verneinung heraus jedoch alles neu erfand – nicht nur an deutschen Unis und nicht nur in Deutschland. Aus Südamerika drang etwas nach Berlin und bis zu mir: das „Theater der Unterdrückten“ und mit ihm „Unsichtbares Theater“. Dort, wo die Analphabetenrate hoch ist, braucht man die verbale Kultur – um die Menschen aufzuklären. „Unsichtbares Theater“ war eine neue Methode. Man inszeniert eine Situation – auf der Straße, in der U-Bahn, im Foyer eines Theaters: Ein Paar streitet sich. Ein alter Mann wird bestohlen. Ein Schwarzer wird angepöbelt – solche Sachen passieren. Beim „Unsichtbaren Theater“ werden die Leute zum Handeln ermutigt. Die Idee gefiel mir.

Was, wenn meine Magisterarbeit „Unsichtbares Theater“ wäre? Eins, das zwischen mir und den Prüfern spielt – und mit all den Formalitäten: Inhaltsverzeichnis, Analyse, Konklusion, Zitate, jede Menge Fußnoten. Der Gedanke nahm Form an: Die Uni mit ihren eigenen Waffen schlagen.

So war mein Ausweg aus dem Studium, das keines war, die Fantasie, Theater im Kopf. Autonom habe ich eine Theatergruppe vorgestellt, die in Berlin „Unsichtbares Theater“ machte. Ich habe Stücke geschrieben, Inszenierungen reflektiert, die Auflösung des Ensembles und die historische Einordnung nicht vergessen – nur war das alles unsichtbar. Es war Theater, das aus der Verneinung kam und sich nebenbei neu erfand.

Die Prüfer applaudierten. Bis heute weiß ich nicht, ob zumindest einer der beiden das Theater erkannte und – unsichtbar – mitgespielt hat.

WALTRAUD SCHWAB

Entlastung als Geschäft
NEUNZIGERJAHRE Die Abschlussarbeit kostet Lebenszeit – oder 45 Euro pro Seite

Schlau sein. Anerkannt. Diesen einen Satz nie sagen müssen, der dir das Wort „Versager“ auf die Stirn tätowiert. Der ein entschuldigendes Lächeln mit sich zieht. Der dich unzuverlässig macht, ziellos:

Ich habe nicht fertig studiert.

Das sagt sich heute nicht mehr leicht. In Zeiten, in denen alle fertig studieren. Alle Auslandserfahrung haben. Alle geradlinige Lebensläufe. Was also tun, wenn die Diplomarbeit in zwei Monaten abgegeben werden muss, aber nicht mal die Gliederung steht?

Aleksandra Fedorska, 33, ist Ghostwriterin. Sie hat über hundert wissenschaftliche Arbeiten geschrieben. Für andere. In der Unibibliothek sucht sie Literatur, schreibt. Seit über sieben Jahren. „Deutsche halten gern die Moral hoch“, sagt die gebürtige Polin. „Wenn ich mir aber anschaue, wie viele Angebote ich bekomme, kann es mit der Moral nicht weit her sein.“ Im Internet tummeln sich die Anbieter, seit den 90ern boomt das Geschäft.

Eine Seminarbeit kostet bei Aleksandra Fedorska 30 Euro pro Seite. Eine Magisterarbeit 45. Die Politologin teilt ihre Kunden in drei Gruppen: Erstens die ausländische Studenten, deren Arbeiten oft schon angefangen sind. Inhaltlich gut. Sprachlich schlecht. Zweitens: Studenten in Notsituationen, wo das Abgabedatum näher rückt. Trotz der Schwangerschaft. Des Todesfalls. Und drittens: die Faulen. Die Reichen. Aleksandra Fedorska nennt sie „Menschen, die uns als Supermarkt betrachten“.

Fühlt sie sich nicht als eine, die Wissen verkauft? Ausflüchte fördert? „Ich informiere über die Geschäftsbedingungen“, sagt Fedorska. Darüber, dass der Student ihre Arbeit höchstens als Vorlage nehmen darf. Nicht einfach seinen Namen unter ihre Arbeit setzen darf.

Natürlich weiß sie, dass genau das der Kern ihres Berufs ist, die Bedeutung von „ghostwriting“, dass genau darum der Markt wächst. Aber, sagt sie: „Was mit meinen Arbeiten passiert, interessiert mich nicht.“ Sie gewinne aus ihrem Job. Wissen. Ansehen. Aleksandra Fedorska hat fertig studiert. ANNABELLE SEUBERT

Lackierer und Professor
NULLERJAHRE Eine Kanzlei verkauft Titel für 44.000 Euro

Zwei Jahre lang hat die Kanzlei Akademus gefälschte Doktortitel verkauft – mindestens 71-mal. Dem 34-jährigen Maler und Lackierer Martin D. und dem 54-jährigen Schauspieler Norbert W. werden im Sommer 2003 Betrug und Urkundenfälschung vorgeworfen. Rund 1,2 Millionen Euro haben sie mit dem Geschäft verdient, bis zu 44.000 Euro haben Interessenten für eine Promotionsurkunde bezahlt.

Ein Akademus-Kunde wurde mit dem neuen „Dr.“-Kürzel Professor an einer Fachhochschule in Bayern, bis der Schwindel aufflog. Ein 70-jähriger Pfarrer hat einen Doktortitel gekauft, um ihn später auf seinem Grabstein stehen zu haben. Weitere Klienten waren ein Manager aus der Führungsetage von DaimlerChrysler, ein ehemaliger BKA-Beamter, ein Bankdirektor, ein Immobilienmakler.

Die Universitäten litten unter den derzeitigen Mittelkürzungen, pflegte Martin D. zu erklären. Daher seien Professoren gegen eine angemessene Spende an den Fachbereich bereit, den Spendern eine zügige Promotion zu erteilen. Norbert W., der vermeintliche Doktorvater, hatte von Wissenschaft keine Ahnung und war vor allem damit beschäftigt, „Momente zu vermeiden, wo mich einer mal was Fachliches fragt“.

Aufgeflogen ist der Betrug im Februar 2002 durch einen Sachbearbeiter im Einwohnermeldeamt Ingolstadt. Er traute den Unterlagen nicht und rief bei der Freien Universität Berlin an.

Der Chef der Akademus-Kanzlei Martin D. floh in die Schweiz, kurz darauf wurde er verhaftet. KIRSTEN KÜPPERS

UV-Stifte und Bluetooth
ZEHNERJAHRE Ersetzt Mogeln 2.0 heute den Spickzettel?

Früher schrieben sich Studenten Matheformeln in ihre Mäppchen, heute sind hoch professionalisierte Spick-Nerds am Werk – könnte man meinen. Bei all den raffinierten Hilfestellungen, die es mittlerweile gibt.

Das Flaschenetikett, zum Beispiel, erlebt ein Revival: Auf Internetseiten kann man sich Getränkebeschriftungen herunterladen – und die Zutatenliste durch Spick-Infos ersetzen. Auf eine Flasche kleben, fertig.

Auch bei Ebay werden Schummelwillige fündig: Der „Spickstift“ macht unsichtbar geschriebenes sichtbar mit der im Stift integrierten UV-Lampe. Der Verkäufer gibt sich moralisch: „Wenn Stift oder Zettel nicht zum Einsatz kommen, war das Schreiben wenigstens eine zusätzliche Übungseinheit.“ Das geht? Eher nicht: „Den Leuchtstift hab ich zu Hause … Der funktioniert nicht gut“, schreibt ein User. Und was passiert eigentlich, wenn Sonnenlicht auf das beschriebene Papier fällt?

Auf einer französischen Internetseite gibt es den „Spy Cheat Earpiece“. Mit dem drahtlosen Knopf im Ohr, über Bluetooth mit dem Handy verbunden, lassen sich unauffällig Infos übermitteln. Das erfordert jedoch viel Übung mit dem Komplizen, der draußen ins Handy spricht. Denn: Wann sprechen, wann nicht? Was fragen, was nicht?

Um dieses Problem zu umgehen, hat ein Abiturient bereits 1996 eine Hightech-Brille entwickelt. Die daran befestigte Minikamera nahm die Prüfungsfragen auf und übertrug sie an Freunde. Die lieferten die Lösungen per Funk an den Kopfhörer des Prüflings. Das Ganze flog auf: Der VW-Bus der Komplizen war zu auffällig vor dem Schulgebäude geparkt.

Spicken 2.0: Die Ausflüchte des modernen Studenten? Wohl kaum. Obwohl der Druck auf die Studenten wächst, obwohl ausgefeilte Technik lockt: Noch immer sind altbewährte Traditionen die beliebtesten. Der Spickzettel hat noch lange nicht ausgedient. Allerdings schreibt ihn kaum noch jemand selbst: Man kann ihn ja viel besser in winziger Schrift ausdrucken.

NICOLA SCHWARZMAIER