Ich studiere, verdammt!

TOCHTER Sie sucht danach, was sie wirklich will. Aber dann lernt die Tochter nur, was alle anderen von ihr wollen

Was erwartest du denn von mir? Du willst doch, dass ich Spaß habe, oder?

Meine liebe Mutter, was hast du denn erwartet? Studieren ist anspruchsvoll. Es ist anders als Schule und verlangt viel Disziplin von mir. Und genau deshalb verbringe ich meine Abende lieber in einer Kneipe mit einem Bier und netten Menschen als noch länger in meinem dunklen Kämmerlein mit Hornbrille und literweise Kaffee. Denn beim Bier habe ich die Möglichkeit, über das aktuelle diskursanalytische Problem bezüglich des Systems der Bundesrepublik Deutschlands mit Theorieschwerpunkt auf Jürgen Habermas zu diskutieren – und zwar nicht nur, weil ich das möchte, sondern weil uns das so aufgetragen wurde. Nur so können wir optimal wiederholen, was an der Uni erzählt wurde. Was erwartest du denn von mir? Dass mein Leben seit Semesterbeginn nur dem Studium gewidmet ist und die erste eigene Wohnung in einer neuen Stadt mit zirka 300 verschiedenen Weggehmöglichkeiten unspannend ist? Ja, das erwartest nicht nur du, das scheine auch ich von mir erwarten zu sollen.

Die letzten Jahre waren und sind wohl die Zeit, in der man es tunlichst vermieden haben sollte, den Fuß über die Schwelle einer Universitätspforte zu setzen. Das Gefühl macht sich breit, dass hier keiner versteht, worum es eigentlich geht – weder wir Studierende noch die Lehrenden noch ihr Zahlenden. Noch immer denken die Dozenten, wir müssten „Scheine“ am Semesterende kriegen, dabei heißt das jetzt „Credit Points“. Und in der Verwaltung ist es schon ein Problem, eine Immatrikulationsbescheinigung ausgestellt zu kriegen. Wenn ich in meinem Semester ein Härtefall bin (so heißt das wirklich), weil in der Restplatzbörse nur noch Tibetologie II für mich übrig ist, kann ich das nur belegen und mich glücklich schätzen. Wenn nicht, werde ich am Ende Langzeitstudierende, der wegen Schlendrians das Bafög gestrichen wird.

Andererseits können in Leipzig seit diesem Semester die Tutorien nur noch unzureichend bis gar nicht mehr finanziert werden. Für mich bedeutet das pro Woche zusätzlich neun Stunden selbst erschließende Wiederholung in meinem dunklen Kämmerlein – Hornbrille und Kaffee, du weißt. Deshalb bin ich tagsüber so oft zu Hause. Am Ende spucke ich das dann alles wieder aus. Wir nennen das Bulimielernen.

Wo ich hinschaue, sehe ich frustrierte, eingeschüchterte, verschulte Menschen, die sich nicht für den Inhalt des Seminars interessieren – und wenn es noch so interessant, praxisnah und mit den besten Experten ausgestattet ist, die die Uni hat. Ihr Interesse gilt dem Umfang der Hausarbeit, deren Bewertung und ob sie sich das auch in der Bachelorarbeit anrechnen lassen können. Weißt du, es ist nicht leicht, sich aus diesem Sog herauszuhalten.

Du willst doch, dass ich Spaß habe, oder? Aber Studieren ist heute kein Vergnügen mehr wie bei dir damals, wo es vielleicht kurz vor der Klausur ein bisschen anstrengend wurde. Es ist eine Lebensaufgabe mit harten Konsequenzen bei Nichterfüllung. „Schaffen Sie dieses Modul nicht, ist Ihr Studium hin“, hat mein Logikprofessor neulich gesagt, bei diesem Satz stockte uns im Hörsaal kurz der Atem. Schlimmer als ein Semester ohne Bafög ist nur noch ein verhauenes Studium.

Ich habe gelesen, dass es nicht mehr wichtig ist, was man studiert, sondern nur wie. Na dann hätte ich auch Astrophysik nehmen können. Dann wüsstest du vielleicht auch endlich mal, wie mein Studiengang heißt. Eine Mutter, die denkt, man studiere Philosophie, obwohl es Politikwissenschaften sind, ist nämlich nicht besonders hilfreich.

Du siehst, besser als in der Uni kann ich nirgendwo lernen, wie es im harten Leben zugeht. Das ist die beste Vorbereitung, um vielleicht irgendwann später mal Daten in einen Computer der Stadtverwaltung eintippen zu dürfen.

Hanna Maier, 21, studiert seit Oktober 2009 Sozialwissenschaften und Philosophie mit Kernfach Politikwissenschaften in Leipzig