Der Erstarbeitsvertrag ist vom Tisch

Eine Niederlage für Frankreichs Regierungschef, ein Erfolg für die Bewegung: Der heftig umstrittenen Paragraf des „Gesetzes über Chancengleichheit“ soll ersetzt werden. Heute wollen die AktivistInnen über ihr weiteres Vorgehen entscheiden

AUS COGNAC DOROTHEA HAHN

„Wir haben erreicht was wir wollten“, jubelt Julie Coudry, Chefin der sozialdemokratischen studentischen Organsisation Confédération étudiante. „Der Erstarbeitsvertrag existiert nicht mehr“, atmet Karl Stoecke, Vorsitzender der größten Schülerorganisation UNL auf. Maryse Dumas, Vizechefin der CGT, spricht von einem „ganz großen Tag“. Der Sprecher der größten StudentInnengewerkschaft Unef hingegen bleibt so besonnen, wie die französische Öffentlichkeit ihn seit dem Beginn des Konflikts vor zwei Monaten kennen gelernt hat „Wir hoffen, dass das Parlament bis zum Ende dieser Woche die Rücknahme des CPE bestätigt“, sagt Bruno Juillard vorsichtig. In den Tagen bis dahin, so schlägt er vor, sollten die Universitäten bestreikt bleiben.

Kreidebleich und mit blutleeren Lippen war gestern Vormittag der französische Regierungschef vor die Presse getreten und hatte das Ende des von ihm selbst im Eilverfahren durchgepaukten Erstarbeitsvertrags (CPE) verkündet. Dominique de Villepin sprach drei Minuten lang und verabschiedete sich, ohne auf eine einzige Frage zu antworten. Den Ausdruck „Streichung des CPE“ vermied er sorgsam. Stattdessen sagte er; der CPE werde „ersetzt“.

Begründung: Der Erstarbeitsvertrag, der die Einführung einer zweijährigen Probezeit mit täglicher Kündbarkeit ohne Angaben von Gründen für junge Beschäftigte vorsah, sei „leider nicht von allen Franzosen verstanden“ worden. Als „Ersatz“ für den Artikel 8 in dem „Gesetz über die Chancengleichheit“ kündigte de Villepin noch nicht näher beschriebene Maßnahmen zur beruflichen Integration von Jugendlichen an. Nach Ansicht sämtlicher politischer AkteurInnen in Paris geht er stark geschwächt aus der Krise hervor; die er selbst ausgelöst hat.

Am frühen gestrigen Morgen hatte de Villepin zunächst ein Gespräch unter vier Augen mit Jacques Chirac. Die politische Spitze in Frankreich hielt sich mit ihrer gestrigen Entscheidung an das Ultimatum, das ihr zuvor sämtliche Gewerkschaften und streikenden Jugendgruppen gestellt hatten: eine Entscheidung noch vor Ostern.

In den französischen Universitäten und Schulen verfolgten Jugendliche die Ansprache des Premierministers gestern in vollen Hörsälen und Klassenzimmern. In Montpellier wurde unmittelbar danach ein weiteres Gymnasium besetzt. In Clermont-Ferrand zog eine Demonstration von Jugendlichen zum Bahnhof und veranstaltete ein Sit-in auf den Bahngleisen. Und in Poitiers, wo die Jugendbewegung Mitte Februar begonnen hat, riefen StudentInnen umgehend zu einem neuen Aktionstag für heute auf.

Heute morgen soll auch in Vollversammlungen an vielen Orten im Land über die Zukunft der Bewegung entschieden werden. Gleichzeitig müssen mit den Schulen und Universitäten Verhandlungen darüber beginnen, wie die verlorene Zeit aufgeholt werden kann; und auf welchen Zeitpunkt die ab Mai anstehenden Prüfungen verschoben werden können.