Kampf zweier Linien in Hanoi

In Vietnams KP ist der Kampf zwischen Reformern und Dogmatikern unübersehbar

BERLIN taz ■ Vietnams Führung wird im Vorfeld des 10. Parteitages der Kommunistischen Partei von heftigen Flügelkämpfen gelähmt. Prominentester Vertreter der Reformer ist Expremier Vo Van Kiet. Er rief seine Partei in Artikeln in staatlichen Medien zu radikalen Reformen und der „mutigen Berichtigung der Fehler der Vergangenheit“ auf. Sonst werde Vietnam wirtschaftlich nicht an die Industriestaaten und China anknüpfen können. Das Land brauche statt Misstrauen und Behördenwillkür Rechtssicherheit für Investoren und müsse endlich die verbreitete Korruption bekämpfen.

Der Altpolitiker, der 1986 zu den Architekten der Erneuerungspolitik „Doi Moi“ zählte und 1991 bis 1997 Regierungschef war, fordert eine nationale Umweltpolitik, um die häufigen Naturkatastrophen einzudämmen. Er nannte das Wahlverfahren der Parteitagsdelegierten „undemokratisch“, da die Basis daran nicht beteiligt war. „Dunkle Mächte“ um Altpräsident und Reformgegner Le Duc Anh hätten noch die eigentliche Macht.

Bevor Vo Van Kiet an die Öffentlichkeit trat, hatte der Narrenfreiheit genießende Endsiebziger Eingaben an das Zentralkomitee gemacht. Dazu hatte die Führung alle Genossen ermutigt. Erstmals sollte das Parteistatut öffentlich diskutiert werden. Doch es fasst nur bereits vollzogene Änderungen in Schriftform. So soll die KP sich nicht mehr allein auf die Arbeiterklasse beziehen, sondern auch Unternehmer aufnehmen. Das ist längst der Fall.

Heftige Querelen hatten die Parteiführung nach Vo Van Kiets Eingaben handlungsunfähig gemacht. Der ursprünglich für Januar angesetzte Parteitag wurde inzwischen auf den 18. April verschoben. Auf ihm werden die politischen und personellen Weichen gestellt. Im Januar war es dem Zentralkomitee nicht gelungen, sich über Personalentscheidungen zu verständigen. Die Vertreter einer Generation, die am Befreiungskampf gegen Franzosen und Amerikaner teilnahm, wollen sich zurückziehen. Das betrifft den Staatspräsidenten, den Premier- sowie den Innen-, Außen- und Verteidigungsminister. Den potenziellen Nachfolgern fehlt die Erfahrung des Befreiungskampfes. Stattdessen verfügen sie über akademische Abschlüsse in ehemals sozialistischen Staaten.

Die Differenzen zwischen Reformern und Dogmatikern sind groß. Der als möglicher neuer Staatspräsident gehandelte Nguyen Khoa Dien absolvierte eine Universität in der UdSSR und profilierte sich in Vietnam mit scharfer Zensur von Medien und Internet. Sein Gegenspieler, Le Dang Doanh, der einen DDR-Schulabschluss hat und Wirtschaftsberater mehrerer Premiers war, fordert die führende Rolle der KP aus der Verfassung zu streichen und stellt das Nebeneinander von Marktwirtschaft und Sozialismus in Frage.

Ob auch der seit 2001 amtierende Parteichef Nong Duc Manh gehen wird, ist noch nicht entschieden. Er war gewählt worden, weil er keinem der Flügel angehörte und als integrationsfähig galt. Doch die Zeit, in der sich die Flügel einigen konnten, sind womöglich vorbei.

Trotz hohen Wirtschaftswachstums nimmt die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer sozialen Situation, mit Willkür und Korruption zu. Im Februar fanden die größten Massenproteste seit Kriegsende 1975 statt. 60.000 Arbeiter streikten in zwei Provinzen erfolgreich für einen höheren Mindestlohn. Zwischen November und Mitte März fanden vor dem ZK-Gebäude in Hanoi fast täglich Sitzblockaden von 40 Demonstranten statt. Darunter waren wegen Straßenbaus entschädigungslos enteignete Bauern wie auch die frühere Ehefrau von Staatspräsident Tran Duc Luong, die für sich und ihre Tochter Unterhalt forderte. MARINA MAI