TÜRKEI: MIT DER LIRA RISKIERT ERDOGAN SEIN WICHTIGSTES PFUND
: Vermeidbare Krise um die Zentralbank

Nach vier Jahren erfolgreicher Wirtschaftspolitik riskiert die türkische Regierung den hart erarbeiteten Ruf, dass ihr Land ein stabiler Standort geworden ist. Grund dafür ist eine Personalie: Nachdem die Amtszeit des Zentralbankchefs abgelaufen ist, gelingt es Ministerpräsident Erdogan nicht, einen allgemein akzeptierten Nachfolger vorzuschlagen. Wie sensibel die Personalie ist, zeigt sich bereits jetzt. Die Lira verlor erstmals seit langem wieder gegenüber Dollar und Euro, und die seit Jahren boomende Börse sackt ab.

Statt einen anerkannten Finanztechnokraten zu berufen, will Erdogan unbedingt einen Mann aus den eigenen Reihen, dem „grünen Kapital“, wie der islamisch geprägte Wirtschaftssektor genannt wird. Dagegen opponiert sowohl die Großindustrie als auch das kemalistische Establishment mit Staatspräsident Sezer an der Spitze. Nachdem schon ein erster Bewerber durch die Kritik an seinem islamischen Hintergrund gescheitert war, legte Sezer jetzt gegen Adnan Büyükdeniz sein Veto ein. Der ist Generalmanager des explizit islamischen Finanztrusts Albaraka und garantiert nach Meinung von Präsident und Wirtschaftslobby nicht, dass die ausländischen Kapitalmärkte der türkischen Geldpolitik weiterhin vertrauen.

Das Veto war absehbar, und der Fall zeigt, dass Erdogan den Sinn für das politisch Machbare verliert. Zuerst hat er im Fall des Schriftstellers Orhan Pamuk innerhalb der EU seinen Ruf als erfolgreicher Reformer riskiert. Wenig später hat er seinen Finanzminister Unakitan gegen schwere, substanziell begründete Korruptionsvorwürfe gedeckt; seine Regierung scheint nun die Selbstbedienungsmentalität ihrer Vorgänger zu übernehmen. Und mit dem unsinnigen Machtkampf um den Posten des Zentralbankchefs ist der Premier sogar bereit, sein bislang wichtigstes Pfund, eine Wirtschaft mit sinkenden Inflationsraten und einem stabilem Wachstum von sieben Prozent aufs Spiel zu setzen. Die einzige Stärke, die Erdogan bleibt, ist die Schwäche der sozialdemokratischen Opposition. Und auch dies könnte sich durch die Wahlen im kommenden Jahr ändern. JÜRGEN GOTTSCHLICH