Vom Abgrund in die erste Reihe

Es war nicht so, dass es sich Philip Seymour Hoffman in der Nische als bester Nebendarsteller bequem gemacht hatte. Im Gegenteil: Schon 2002 spielte er in dem Liebesdrama „Love, Liza“ die Hauptrolle und füllte einen ganzen Film mit fast unerträglicher Schwermut aus. Doch erst mit seiner überragenden Darstellung in „Capote“ öffnete Hollywood seine erste Reihe und ließ ihn aufschließen: Am Sonntag gewann Hoffman den Oscar als bester Hauptdarsteller.

Dabei unterscheidet sich seine aktuelle Rolle als Schriftsteller-Star Truman Capote kaum von den Figuren, die er bis dato gespielt hat: Immer sind sie knapp vor dem Absturz, immer kurz vor der Selbstaufgabe. Als Rockjournalist Lester Bangs liegt er in dem 70er-Jahre-Hardrock-Film „Almost Famous“ am Boden und lässt sich vom Punk in den Hintern treten, in Todd Solondz’ „Happiness“ ist er vor allem mit Wichsen beschäftigt. „Ich kenne kaum jemanden, der gesund, normal und angenehm ist. Die meisten sind wie wir: sehr seltsam“, kommentiert Hoffman seine Rollen. Doch irgendwie schafft es der 38-Jährige immer wieder, seine Verlierer-Figuren mit einer Hand aus dem Abgrund zu ziehen und ihnen einen Rest Würde zu verleihen – eine Kunst, die er in „Capote“ nun zur Perfektion geführt hat.

Ganz am Anfang fährt die Kamera durch eine dieser Cocktail-Partys, auf denen der Schriftsteller sein halbes Leben zu verbringen scheint. Für einen Moment ist von Capote nur eine Hand im Bild, doch die affektierte Geste, die sie vollführt, füllt die ganze Leinwand auf. Von Anfang bis Ende brennt Hoffman in diesem Film ein Feuerwerk der Manierismen ab. Er spricht mit kieksender Stimme und S-Fehler, flattert mit den Augenlidern und wirft seinen Schal dramatisch über die Schulter: „Balenciaga!“ Es ist fast unerträglich, doch man will immer mehr davon sehen.

Hoffmans Untergrund-Ruhm, den er sich über die Jahre erarbeitet hat, beruht aber nicht allein auf seiner Schauspielkunst. Mit sicherer Hand hat er sich die besten Regisseure und Darsteller-Kollegen ausgesucht. Er ist fester Bestandteil von P. T. Andersons Ensemble (u. a. „Magnolia“) und grinst in „The Big Lebowski“ Jeff Bridges fast in den Boden.

Und auch in „Capote“ strahlen Hoffman und seine Partnerin Catherine Keener als Nelle Harper Lee sich gegenseitig im besten Licht an. Keener war dieses Jahr übrigens als beste Nebendarstellerin für den Oscar nominiert, hat aber nicht gewonnen. Gut möglich, dass für die großartige Keener („Being John Malkovich“) durch das Aufrücken von Hoffman ein Platz frei geworden ist. Als ewiges Talent in der zweiten Reihe. Hannah Pilarczyk