Madame la Présidente

„Stolpere ich, wäre das ein Rückschlag für alle mutigen Frauen und Männer des Landes“

AUS LA ROCHE-POSAY DOROTHEA HAHN

„Ich bin bereit“, sagt Madame la Présidente. Stellt die Kaffeetasse ab. Schlüpft in einen Schutzkittel. Stülpt Plastikschoner über ihre Lederstiefel. Und stapft in den dichten Wasserdampf. Der Bürgermeister, der Kurbaddirektor und der Chef der Klinik für Hautkranke folgen ihr. Sie begrüßt Patienten, die in Bademänteln auf die Behandlung mit dem Thermalwasser von La Roche-Posay warten. Sie interessiert sich für Ausschläge und Verbrennungen. Für die mineralische Zusammensetzung des Wassers. Und für die Zahl der Arbeitsplätze.

Von einem Jungen mit entstelltem Hals und Kinn will sie wissen, wie es passiert ist. „Eine Fritteuse“, schüttelt sie sich entsetzt, als sie wieder draußen ist. Mehrere Tassen Kaffee und drei Stippvisiten später ist die Präsidentin der westfranzösischen Region Poitou-Charentes mit ihrer kleinen Eskorte in der Kosmetikschule des Kurorts angelangt. Schaut zu, wie eine Patientin lernt, die Narben in ihrem Gesicht zu überschminken. „Für die Moral ist so etwas wichtig“, weiß die Besucherin, so als spräche sie aus persönlicher Erfahrung. Dabei ist ihr Gesicht so makellos wie kaum ein anderes an der Spitze der französischen Politik.

Ségolène Royal ist die meistbeachtete Sozialistin Frankreichs. Seit sie im vergangenen Herbst einem Journalisten erklärt hat, sie stünde 2007 „bei Bedarf“ für das oberste Staatsamt zur Verfügung, ist die 52-jährige der aufsteigende Star. Seit Monaten führt sie die Meinungsumfragen an. Zunächst als bestplatzierte Sozialistin für die Präsidentschaftswahlen. Neuerdings auch als mögliche Siegerin im Duell gegen den rechten Parteichef, Innenminister Nicolas Sarkozy.

Beinahe täglich schickt irgendeine Chefredaktion Reporter zu ihr in die Provinz. Wenn sie einer englischen Zeitung erklärt, sie finde „nicht alles, was Blair getan hat, schlecht“, kommt das am nächsten Tag landesweit in die Schlagzeilen. Und der Radiosender RTL warb für sich mit einem Foto von ihr. Es zeigt Royal, wie sie mit ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer vier Kinder, François Hollande, lächelnd und beschwingt die Freitreppe vom Elyséepalast herunter steigt. Noch aber regiert sie nur Poitou-Charentes. Die ländliche Region mit 1,6 Millionen Einwohnern und einem langen Küstenstreifen am Atlantik produziert Ziegenkäse, Cognac und Strom – im Atomkraftwerk Civaux, einem der neuesten in Frankreich.

Andere Spitzenpolitiker mit präsidentialen Absichten legen ein „15 Punkte“-Programm vor oder versprechen den „großen Bruch“? Royal macht „Müllentsorgung“ und organisiert Beiräte für die „partizipative Demokratie“ an Schulen. Andere erklären offiziell ihre „Kandidatur für die Kandidatur“? Royal sagt: „Die Partei wird den bestplatzierten Kandidaten nominieren. Wenn ich das nicht sein sollte, bleibe ich eben im Poitou-Charentes.“

Vielen Franzosen gefällt das. Zumal keiner der großen programmatischen Würfe von rechts und links den versprochenen Erfolg gebracht hat. Die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch, die Konjunktur schwach, die innere Sicherheit durch die wochenlangen Vorstadtunruhen im Herbst erschüttert.

Das Konkrete und Kleinteilige war schon in Royals Kampagne für die Regionalwahlen im Jahr 2004 ihr Markenzeichen. Neun Monate lang zog sie damals durch die Region. Mied Podien und Rednertribünen. Und setzte sich in kleinen Kreisen mit den Wählern zusammen. „Die Citoyens sind die besten Experten“, begründete sie ihr Vorgehen. „Es war ein wunderbar klarer Wahlkampf. Der einfachste meines Lebens“, schwärmt Paul Fromenteil. Der 76-jährige Kommunist, einst Sekretär von Parteichef Georges Marchais, ist jetzt Vizepräsident der Region Poitou-Charentes. Die Region, bis zu den Wahlen die Hochburg des damaligen rechten Premierminister Jean-Pierre Raffarin, fiel Royal und ihren grünen und kommunistischen Mitstreitern wie ein reifer Apfel in den Schoß. Sie wurde die einzige Frau an der Spitze einer der 26 französischen Regionen. Vor ihr öffnete sich ein Boulevard.

Neben Royal wirken die meisten anderen Politiker farblos und alt. Auch jene, die gleichaltrig sind. Keiner schafft wie sie den Spagat zwischen Moderne und Tradition. Als bestes Argument dient ihr dabei das eigene Privatleben: die vier Kinder als Zeichen für Familienverbundenheit und die Beziehung ohne Trauschein für Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Formen des Zusammenlebens. Immer wieder hat sie beides in ihrer politischen Karriere als Argument eingesetzt. Mit ihrer jüngsten Tochter Flora posierte sie schon wenige Tage nach der Niederkunft. Damals war sie Ministerin. Sie lud Fotografen an ihr Krankenhausbett und breitete dienstliche Dossiers darauf aus. In diesem Winter trat sie erneut mit dem inzwischen 14-jährigen Mädchen für Fotos auf.

Die Männer an der Spitze ihrer Partei, der Parti Socialiste (PS), die seit Jahren ihre eigene Kandidatur vorbereiten, reagierten mit Panik auf Royals Erfolg. „Ist das ein Schönheitswettbewerb?“, feixte Exkulturminister Jack Lang. „Wer kümmert sich um die Kinder?“, fragte Expremierminister Laurent Fabius. Beide sind ebenfalls Väter. Exfinanzminister Dominique Strauss-Kahn wandte sich mit der Bitte um „Klärung“ an Hollande. Der ist nicht nur Royals Lebensgefährte, sondern zugleich Parteichef der PS. Außerdem hat er selbst präsidiale Absichten. Hollande versprach den Genossen, über die sozialistische Präsidentschaftskandidatur werde nicht im Inneren seiner Beziehung, sondern bei einer Mitgliederbefragung der PS entschieden. Und das erst im kommenden November. Wie geplant. Seit der PS-Chef das gesagt hat, brodelt die Pariser Gerüchteküche mit Geschichten über Beziehungsproblemen zwischen Royal und Hollande.

Gleichzeitig betätigen sich bekannte politische Journalisten als Echo der PS-Spitze. Bei einem Interview in den Hauptabendnachrichten will der Nachrichtensprecher mit süffisantem Grinsen wissen, ob Royal überhaupt das Fachwissen für das Amt habe. Die Frage stellt er keinem männlichen Bewerber. Zeitungen bringen detaillierte Beschreibungen ihrer Pfennigabsätze und eleganten Kostüme. Angeblich: „Weil sie kein Programm hat.“ Dem Erfolg von Royal tut das keinen Abbruch. Den größten Zuspruch erntet sie von Jungwählern und Frauen. Auch Wähler aus dem rechtsliberalen Lager mögen sie. Bei der EU-kritischen Linken hingegen hat sie einen schweren Stand. Wie die PS-Parteiführung hat sie vehement die EU-Verfassung verteidigt.

Im Poitou-Charentes versucht Madame la Présidente Royal einen kühlen Kopf zu bewahren. Sollte es so weit kommen, wäre sie die erste Frau, die auf einem aussichtsreichen Platz für das oberste Amt im Staat Frankreich kandidiert. Vor ihr gab es nur radikale Linke und Umweltschützerinnen. Sie sieht sich als Vorkämpferin: „Wenn ich stolperen würde, wäre das ein Rückschlag für alle mutigen Frauen und Männer dieses Landes.“ Sie vergleicht sich mit Angela Merkel: „Die ist auch als Frau unterschätzt worden. Und hat in Moskau und in Washington Mut bewiesen.“ Sie nennt sich eine Feministin: „Aber nicht im Stil des Geschlechterkampfs der 70er-Jahre, sondern des gleichberechtigten Zusammenlebens.“ Und sie ist überzeugt, dass ihr Land „reif“ für eine Frau an der Spitze ist. „Sexistisch“, meint sie, „sind nur vereinzelte Individuen. Die haben den Kontakt zur Gesellschaft verloren.“ Das ist ein Seitenhieb auf die Genossen.

Royal weiß, dass Umfragen wetterwendig sind. Und dass es 15 Monate vor den Präsidentschaftswahlen zu früh ist, um verlässliche Prognosen abzugeben. Denn sie ist nicht die Außenseiterin, als die sie jetzt wahrgenommen wird. Sie ist im Serail der Pariser Politik groß geworden. Sie hat die ENA besucht – die Schule, aus der die politische und wirtschaftliche Elite des Landes kommt. Sie hat ihre berufliche Karriere im Elyséepalast begonnen – im Beraterstab des früheren Staatspräsidenten François Mitterrand. Und sie ist seit 1988 ununterbrochen für die Sozialistische Partei im Parlament. Sie war in den 90er-Jahren dreimal Ministerin: für Umwelt, für Bildung, für Familie. Nach Poitou-Charentes kam sie über Mitterrand. Der Staatspräsident verhalf der jungen Frau, die für ihn arbeitete, auch zu dem Wahlkreis. Eine Anbindung an die Basis im „tiefen Land“ ist Voraussetzung für eine nationale Karriere.

Aus politisch heiklen Dossiers hält sie sich heraus. Zu der Atombombendrohung von Jacques Chirac gegen Staaten, die den Terrorismus unterstützen, will sie nichts sagen: „Eine öffentliche Diskussion über die Force de frappe würde die französische Abschreckung schwächen.“ Einen Ausstieg aus der Atomenergie erwägt sie nicht. Und eine Reform der Institutionen der V. Republik, wie ihre Partei sie seit Jahren debattiert, lehnt sie ab: „Je weniger man die Verfassung anrührt desto besser.“

Gelegentlich bringt sie sich durch internationale Eskapaden in Erinnerung. Als Anfang Januar die PS-Spitze zum zehnten Todestag von Mitterrand in das Städtchen Jarnac in Poitou-Charentes pilgert, fehlt die erklärte Mitterrandistin. Sie weilt, umgeben von mitreisenden Journalisten, in Chile, um die damalige Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet im Wahlkampf zu unterstützen. Die Schlachten vor der Auswahl der Präsidentschaftskandidaten werden in den Medien geschlagen.

Im Kurort La Roche-Posay betrachten die Verantwortlichen die Regionalpräsidentin von Poitou-Charentes als Hoffnungsträgerin für „größere Verantwortungen“. Das Thema ihrer möglichen Kandidatur ist in allen Köpfen. Aber niemand spricht davon. Der Bürgermeister ist ein Rechtsliberaler, aber er weiß, dass so was auf „jeden Fall nützlich für die Region sein kann“.

Zum Abschied schreibt Royal in ein Gästebuch: „Eine kurze Visite, der ein längerer Besuch folgen wird.“ Sie kündigt an, dass sie einen „Thermalplan“ entwickeln wird. Die Chefin der örtlichen Hotellerie blickt ihr tief in die Augen und entgegnet: „Wir wissen, dass Sie Ihr Wort halten.“ Madame la Présidente strahlt.