Der Klang der Sirene

ERINNERUNG Ich mag die freiwillige Feuerwehr. Mag das Martinshorn, das Blaulicht und die Helme. Selbst wenn Feuerwehrleute aus ihren Fahrzeugen springen und wichtigtuerisch herumbrüllen, steigt ein wohliges Gefühl in mir hoch. Zugegeben: Diese Zuneigung klingt verdächtig nach autoritärem Charakter. Aber Feuerwehrleute haben einfach einen gut bei mir. Doch das war mal anders

Alles begann mit einem Paar gelber Gummistiefel: Meine Familie war wegen eines Arbeitsplatzwechsels aus Göttingen in den trüben Norden gezogen. Aufs Land, in die Nähe von Bremen. Ich war in der Pubertät, hasste die neue Bauerngegend, die „Dorftrottel“ und vor allem: die freiwillige Feuerwehr.

Die traf sich immer im Dorfgemeinschaftshaus, gleich nebenan. Spielte sich total auf. Auch meine links-bürgerlichen Eltern waren keine Freunde dieses Männervereins, des Volksfest-Geschunkels, der Gulaschkanonen, der Herrenwitze. Jeden Samstag um Punkt zwölf wurde damals die Sirene auf dem Feuerwehrhaus getestet. Uns alle nervte das.

Doch ich war neu in der Schule und kannte niemanden. Ein Junge aus meinem Dorf nahm sich meiner an. Er war aktiver Jugendfeuerwehr-Rottenführer, oder wie man das nennt. Irgendwann schlug er mir vor, ihn zu seinem Feuerwehr-Treff zu begleiten. Meine Eltern waren skeptisch. Ich war skeptisch. Aber was sonst gab es auf dem Dorf zu tun? Eines Tages stapfte ich hinüber ins Feuerwehrhaus und war, wie ich dachte, ordentlich ausgestattet für den Einsatz an der Wasserkanone: mit gelbem Südwester und gelben Gummistiefeln. Aber für die Feuerwehr-Jugendlichen sah das so albern aus, wie es heute klingt.

Auf dem ganzen Treffen wurde nur trockene Theorie über Feuerwehr-Choreografien durchgekaut. Irgendein Wettkampf stand an, aber wir waren kein einziges Mal an den Geräten. Sie lachten mich aus. Das bestätigte meine Skepsis. Seitdem verband mich mit Feuerwehr eine innige Feindschaft. Ich pflegte den Hass, jedes Mal, wenn samstags die Sirene heulte.

Bis zum Sommer 1996. Ein ruhiger Ferientag. Meine Mutter im Garten, ich in meinem Zimmer. Plötzlich klingelt es bei uns Sturm, ein Nachbar schreit um Hilfe. Aus einem Terrassenzimmer im Nachbarhaus schossen die Flammen. Sie reichten bis zum Dachgeschoss. Meterhoch. Die Hitze ließ die Fenster zerbersten. Im Haus wohnte noch ein anderer, älterer Mann, Alkoholiker, Kettenraucher. Ich war wie gelähmt. Der alte Mann musste gerettet werden. Die Angst war wie eine Mauer. Lange schämte ich mich dafür, dass ich nicht ohne zu zögern in die Flammen gesprungen bin. Ich wusste nicht, dass der alte Mann schon tot war. Er lag drinnen nahe der Terrassentür. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Meine Mutter stieg in die Flammenwand. Sie zog ihn raus. Ich weiß, dass der Nachbar und ich geholfen haben, aber nicht mehr, wie weit auch wir im Feuer standen.

Wer die Feuerwehr gerufen hat, weiß ich nicht mehr. Das Wasser aus unserem Gartenschlauch verdampfte, bevor es löschen konnte. Alles dauerte wie eine Ewigkeit. Bis endlich, endlich auf dem Feuerwehrhaus die Sirene heulte. Eine Erlösung. Die Männer blieben bis spät in die Nacht und hielten Wache, dass die Glut sich nicht wieder entzündete.

Nur 14 Tage später wachen wir nachts auf. Ein Schimmern. Wieder Feuer. Vor unserem Haus brennt ein Auto. Niemand sitzt darin. Wieder rennen wir raus, rufen um Hilfe, rufen die Feuerwehr. Die Notrufzentrale hält es für einen Scherz, dass es wieder auf dem selben Grundstück brennt. Die Feuerwehr kommt deshalb nicht. Wir rufen erneut an. Endlich, endlich zerschneidet die Feuerwehr-Sirene die Nacht.

Später stellt sich heraus, dass Autodiebe das Fahrzeug loswerden wollten. Ein Zufall, von dem ich mich lange nicht erholen konnte – wo brennt es schon zweimal. Aber wenn ich danach Feuerwehr-Sirenen hörte, wusste ich wenigstens: Sollte es schon wieder bei mir brennen, sind die Jungs vermutlich schon auf dem Weg.  JEAN-PHILIPP BAECK