Wenn Kritiker heimlich mitsummen

Die Zeiten, in denen Osnabrück und Theaterprovinz synonym verwendet werden konnten, sind vorbei. In kurzer Zeit hat es der neue Intendant Holger Schultze geschafft, sowohl das Abonnement-Publikum zufrieden zu stellen als auch das überregionale Feuilleton. Angst vor Kassenschlagern hat er nicht

von Thorsten Stegemann

Osnabrück scheint vollständig kontaminiert zu sein. Überall in der Stadt leuchtet von Litfasssäulen und aus Schaufenstern ein grellrotes „T“ im durchbrochenen Halbkreis, das freilich nicht vor radioaktiver Verseuchung warnt, sondern für das Osnabrücker Theater wirbt. Auch wenn das neue Logo nicht jedermanns Sache ist – es macht neugierig.

Dabei sorgten lange Jahre die Städtischen Bühnen der Stadt dafür, dass Osnabrück als Inbegriff der Theaterprovinz galt. Was als Aushängeschild für die selbstgefühlte Kulturhauptstadt Europas fungieren sollte, kam über redliches Bemühen oft nicht hinaus. Seit einem Vierteljahr hat sich einiges geändert, auch wenn die finanziellen Engpässe, die für einen Teil der Qualitätseinbußen mitverantwortlich waren, keineswegs überwunden sind. Im Gegenteil, auch die neue Theaterleitung um Intendant Holger Schultze – seit dem Spätsommer im Amt – muss in den kommenden vier Jahren eine weitere Million Euro einsparen.

In solchen Zeiten hilft ein potenzieller Kassenschlager wie Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“. Die Geschichte vom verarmten, aber blaublütigen Verwalter, der seine Angebetete erst in die Arme schließen darf, nachdem er sie mit viel Moll und begleitenden Zigeunergeigen ins tenorale Koma gesungen hat, ist eigentlich ein klarer Fall fürs Methusalem-Komplott. Ausgerechnet diese sentimentalen Weisen hat Holger Schultze zur „Chefsache“ erklärt. Nach Goethes „Faust I“ setzt der 43jährige innerhalb kurzer Zeit ein weiteres Stück persönlich in Szene. Als der Vorhang bei der Premiere im Dezember nach über drei Stunden fällt, ist ihm gleich zweierlei gelungen. Das Abonnementpublikum, das beim Anblick des aufwendigen Bühnenbildes bereits beifällig geraunt, dann heimlich gesummt und wissend gekichert hat, um auf dem Höhepunkt norddeutscher Begeisterungsfähigkeit endlich lautstark mitzuklatschen, fühlt sich so gut unterhalten wie lange nicht mehr. Und den Skeptikern, die mit Kálmán bisher wenig anfangen konnten und die Lachnummer der Saison witterten, geht es wider Willen ähnlich. Schultzes Inszenierung ist schnell, unprätentiös und selbstironisch. Sie setzt auf das spielerische Element, verzichtet auf viele handelsübliche Klischees und falsches Pathos, und wenn auch nicht jede Idee zündet, so überzeugt doch das Gesamtkonzept.

Ähnlich ist es bei den meisten Inszenierungen der laufenden Saison. Schon das bis dato bundesweit einmalige Festival „Spieltriebe“ zeigt Mitte September, wohin der Weg gehen soll. Mit zwölf Uraufführungen und Deutschen Erstaufführungen will Schultze Osnabrück zu einem Zentrum des zeitgenössischen Theaters machen. Sein gewinnendes Wesen weiß die Idee, es könne sich hier um eine gehörige Portion Zweckoptimismus handeln, bereits im Keim zu ersticken, und die Rechnung geht auf: „Spieltriebe“ erfährt mit über 80 Prozent Platzausnutzung eine bemerkenswerte Zuschauerresonanz. Und auch wenn die Kritiken über das Theater nicht immer positiv ausfallen, gelingt es ihm und Pressechefin Sonja Zirkler, Medienvertreter aus ganz Deutschland nach langer Zeit wieder in die Hasestadt zu lotsen. Die Ernte: 250 größere Beiträge in vier Monaten.

Der Brückenschlag zwischen Publikumserwartung und künstlerischer Innovation hat offenbar System. Zeitgenössische Stücke werden in vergleichsweise konventionellen Inszenierungen gezeigt oder – wie die avantgardistische Hitchcock-Hommage des neuen Tanztheater-Leiters Marco Santi – schon im Vorfeld durch große Namen aufgewertet. Klassiker bekommen umgekehrt eine behutsame Frischzellenkur. So geschehen bei Goethes „Faust I“, den Schultze bereits am Theater Augsburg inszeniert hat. Die Aufführungen sind fast durchgängig ausverkauft. Sogar Schüler, die in Hundertschaften zu Extra-Vorstellungen gekarrt werden, finden den Klassiker „irgendwie ziemlich cool“, und das nicht nur, weil er ihnen im günstigsten Fall zwei Stunden Mathe erspart. In Zukunft könnten es vielleicht noch mehr werden, denn die Theaterleitung diskutiert in der Stadt gerade ein ehrgeiziges Vorhaben. Alle Osnabrücker Schüler sollen vom 5. bis zum 11. Schuljahr mindestens einmal im Jahr eine Theateraufführung besuchen.

Der Lockruf der Kunst ereilt aber nicht nur die nachfolgenden Generationen. Schultzes Team ist erkennbar bemüht, das Theater geographisch und kulturell in der Stadt zu verankern. Oder versucht er gar, dieselbe einzugemeinden? Feststeht, dass sich der Musentempel mit einer Fabrikhalle am Hafen, dem Nussbaum-Museum und wechselnden Orten in der Osnabrücker Innenstadt neue Spielflächen und ein anderes Publikum erobert hat. Eben das geschieht auch durch die Einbeziehung lokaler Kulturträger wie des Osnabrücker Akkordeonorchesters, das in der Neuinszenierung von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ eine wichtige Rolle spielt.

In dieser recht entspannten Atmosphäre sorgt der junge italienische Regisseur Lorenzo Fioroni mit seiner Interpretation von Verdis „Nabucco“ für den einzigen kleinen Skandal der kurzen Ära Schultze. Zwischen Gefechtsständen, Feldlazaretten und toten Anti-Terror-Kämpfern wollen erboste Osnabrücker den Ohrwurmlieferanten nicht sehen und protestieren mit einem lautstarken Buh-Konzert. Doch Fioroni, der 2006 an der Deutschen Berlin inszenieren wird und gerade den renommierten Preis der Götz-Friedrich-Stiftung in Empfang nehmen durfte, bekommt gute Kritiken und überraschend viele Fürsprecher, so dass sich von Aufführung zu Aufführung eine lebhafte Diskussion entwickelt.

Den Intendanten freut es. „Wir wollten keinen Feuilletonstart, aber doch beweisen, dass das Stadttheater nicht tot ist. Zu diesem Zweck müssen wir das Publikum mitnehmen und gleichzeitig erstklassiges Theater zeigen. Die Provinz gibt es wirklich nur im Kopf,“ meint Schultze. Osnabrücks Sozial- und Kulturdezernent Reinhard Sliwka spricht schon von „Aufbruchstimmung“ und „neuer Begeisterung“. Er erinnert sich an einen heftigen Streit mit Schultze, als der sich noch um das Amt des Intendanten bewarb und die finanzielle Ausstattung der Städtischen Bühnen zur Diskussion stand. Bis heute fühlt sich Sliwka ein wenig „als zweiter Sieger“, lobt aber gerade deshalb die Eloquenz und Durchsetzungsfähigkeit seines Verhandlungspartners. Besonders beeindruckt ist der Dezernent von der Reaktivierung des Kinder- und Jugendtheaters, das 2006 endlich aus einem langen Dornröschenschlaf erwachen soll. Die Mittel, um das Projekt für zunächst fünf Jahre zu etablieren, hat die neue Theaterleitung mit Hilfe von Bürgern und Unternehmen eingeworben. Sie engagieren sich in einer Stiftung und in einem Initiativkreis, die zusammen pro Jahr 60.000 Euro aufbringen wollen, um das vielerorts schon als Pilotprojekt für ganz Niedersachsen ausgelobte Vorhaben realisieren zu können.

Ob dieser persönliche Einsatz von der Politik belohnt wird, steht allerdings noch dahin. Die niedersächsische Landesregierung hat den Zuschussvertrag für das Theater zum Jahresende 2006 gekündigt.