Warten auf die Vergangenheit

FRÜHER Für Menschen in Altersheimen ist Erinnerung Gegenwart. Ein Memory-Spiel

„Dit olle Jeklimper.“ Sie mag lieber „Ringelpietz, Remmidemmi, Berliner Luft“. Sie wiegt sich in ihrem roten Rock, dem rot-schwarzen Jackett schon beim Aufzählen in den Hüften

AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB

Zum Lesen die Augen, zum Tun die Hände, zum Denken den Geist, zum Hören die Ohren. „Ich höre schlecht“, sagt Horst I. – Horst Irgendwer. Zum Wandern die Beine.

Horst I.

Der Mann sitzt allein am Tisch in der Caféteria des „Sunpark“, einem Seniorenzentrum in Berlin. Kerzengerade, bleich, die Haut über Wangen und Nase schimmert wächsern. Seine Hände hält er im Schoß. Er stützt sie nicht ab auf der Narzissentischdecke. Vor ihm steht nichts. Kein leeres Glas. Er starrt auf die Wand. Zwei Bilder – Obstkörbe vor blauem Hintergrund. Daneben die metallene Schwingtür mit den Bullaugen, die zur Küche führt. Manchmal wird die Tür aufgedrückt und schwingt zurück.

Der Mann sitzt alleine am Tisch, obwohl viel los ist am „Tag der offenen Tür“. 450 Leute wohnen im „Sunpark“, es ist ein Altendorf in der Stadt.

– Tschuldigung, ist der Platz frei? Es dauert, bis er reagiert. „Ich höre schlecht.“

Sind Sie alleine?

„Ja.“ Er fügt mechanisch hinzu: „Ich bin kontaktarm.“

Warum?

„Erbanlage“ – es klingt wie „Jerbanlaache“.

Wie bitte?

„Jerbanlaache. Ich bin so.“

Abgenutzte Sätze. Sagen Sie, leben Sie hier?

„Ja, da drüben. Also da hinten.“ Langsam hebt er seinen Arm und zeigt zum Fenster hinaus.

Sagen Sie, warten Sie, dass die Zeit vergeht?

„Da werden hier so Veranstaltungen angeboten, aber ich gehe nicht hin.“

Sagen Sie, vergeht die Zeit langsam?

„Das kann ich nicht beantworten.“

Was er sagt, kommt aus einem Paralleluniversium, von dem er sich erst lösen muss. Als er begreift, dass er angesprochen ist, beginnt er mit der Geburt. Und endet im Krieg: „Ich bin 1927 geboren“, sagt er, „in der Brandenburgischen Frauen- und Hebammenklinik zu Berlin Neukölln. Erbaut im soundsovielten Regierungsjahr von Kaiser Wilhelm“. Welches Jahr genau, weiß er nicht mehr. „Kaiser Wilhelm war König von Preußen und Kaiser des deutschen Reiches. So hab ich das im Lexikon gelesen.“ Das Lexikon hat er in den 50er Jahren gekauft. „Ich war ja auch im Krieg. Vier Tage lang.“

Aber sagen Sie, vergeht die Zeit langsam, wenn man alt ist, wenn man im Seniorenheim ist, wenn die Tage lang sind und die Nächte auch?

„Ich war nur vier Tage an der Front.“ An der Grenze zu Ungarn. Am Karfreitag, dem 30.3.45 sei er verwundet worden, weil er den Stahlhelm abgenommen habe, und später im Lazarett wieder aufgewacht. „Ich hab nur einen Kratzer abbekommen.“ Am 26.4.45 dann Gefangenschaft. Amerikanische. Drei Jahre. „Die Gefangennahme war friedlich. Ich hab im Krieg doch nichts erlebt.“

Wirklich?

Lenchen Seidel

Zehn Kilometer weiter westlich steht das „Haus Birkholz“ mit Blick auf den Bahnhof Charlottenburg. Auf Bänken vor dem Haus sitzen Menschen, die schweigen. Auf den Fluren im Haus nur ein gehauchter Gruß. Lenchen Seidel wohnt hier. Im vierten Stock des Alten- und Pflegeheims, einem Neubau für 136 Menschen. Wenn sie, die nicht Lenchen genannt werden will, wie es im Pass steht, sondern Leni, weil Lenchen sie so klein macht, so unscheinbar, das Lenchen doch, nicht die, wenn diese Zweiundneunzigjährige lacht, wirkt alles um sie herum plötzlich leicht: das Alter, die Vergangenheit, die Liebe, die nicht gelebte, die Gegenwart.

„Hier in diesem Zimmer verbringe ich meine letzten Tage“, sagt sie.

Warten Sie auf den Tod?

„Ja, kann man so sagen.“ – „Nein“, widerspricht da die Tochter, die dabei sitzt. „Du musst an mich denken. Du musst mit mir in den Botanischen Garten, eine Bootsfahrt machen, leben.“ Mutter und Tochter sind „beste Freundinnen“. Mit dem Rucksack und im Greyhound seien sie zusammen durch die Rocky Mountains gezogen.

Das Zimmer, in dem Leni Seidel jetzt wohnt, ist spartanisch eingerichtet, mit Schrank, Bett, Nachttisch, Sesseln. Mehr Hotelzimmer als Wohnzimmer. Mitgebracht hat sie ihr Sideboard mit der goldenen Uhr, das Foto an der Wand, darauf sie Arm in Arm mit ihrer Tochter und deren Freund, darunter der kleine sechseckige „Eierlikörtresor“ – ein Schränkchen. Drin eine Lidl-Tüte mit Flaschen. „Sie räumt immer wieder alles aus und wirft Sachen weg“, sagt die Tochter. Bald hat sie nichts mehr.

Die Freundinnen

Im Garten des „Bethesda“, einer weiteren Senioreneinrichtung, dieses Mal in Berlin-Kreuzberg, in einem über hundert Jahre alten Gründerzeitgebäude, das früher ein Krankenhaus war, sitzen zwei Frauen. Die eine im Rollstuhl ist 92 Jahre alt. Die andere ist sechs Jahre jünger. Sie starren ins Leere. „46 Jahre haben wir zusammen gelebt“, sagt die Jüngere. Sie zeigt auf ein Haus auf der anderen Seite des Gartens. „Jetzt hat meine Freundin Demenz“. Bis vor einem Jahr habe sie sie betreut, jetzt reiche die Kraft nicht mehr. „Wo wohne ich?“, fragt die Frau im Rollstuhl, „wohne ich da drüben?“ „Nein, meine Liebe, du wohnst jetzt hier.“ Die beiden sind Diakonissen, sie arbeiteten in Bethesda, als es noch ein Krankenhaus war. Und das Warten auf den Tod? Die Jüngere zuckt mit den Schultern. Diakonissen sind sie, weil sie an Gott glauben.

Lenchen Seidel

Bevor Leni Seidel, so will sie genannt werden, von sich erzählt, erzählt sie von ihrer Tochter. Deren Geburt 1956 war ihr größtes Glück. Den „Erzeuger“, einen Musiker, der durch die Kneipen tingelte, den sei sie bald los geworden. „Ich hatte ja noch meine Mutter“, erzählt sie, und als sie den Tisch deckte für ihn, ihre Mutter und sich, habe der gesagt: „Was, die isst mit uns am Tisch, da wird mir ganz schlecht.“ Da habe sie seinen Teller mit den grünen Bohnen auf den Boden geworfen. Sie greift in die Luft und hebt einen imaginären Teller hoch, den sie mit Verve auf den Boden schleudert. „Seine Sachen hinterher.“

Vor der Tochter hatte Leni Seidel einen Sohn. Der starb kurz vor Ende des Krieges. Zuvor war ihr Mann gefallen, ohne das Kind je zu sehen. Sie sitzt in ihrem Sessel und erzählt, wie das Kind plötzlich in ihren Armen blau anlief, wie sie zum Arzt rennt, wie der nicht aufmacht, weil er ein Nazi war und nun Angst hatte, dass er abgeholt wird, wie sie weiterlief, durch die ganze Stadt in das Krankenhaus in Marzahn, wie sie dort das Kind nicht aufnehmen wollen, es dann doch tun, es behalten, sterben lassen und sie tags darauf erfährt, dass sie es abholen soll, sonst komme es ins Massengrab.

Sie holt es ab, rennt mit dem toten Kind auf dem Arm bei Alarm zum Friedhof nach Adlershof, bittet einen Pfarrer, ein paar Worte zu sagen, der weigert sich, das Kind sei nicht getauft. „Ich habe es mit meinen Händen verscharrt.“ Mit der Kirche will sie nichts mehr zu tun haben seither. „Das sind so Einzelheiten, die ich nie vergessen werde.“

Und jetzt, am Ende des Lebens?

„Man muss die Zeit rumkriegen“, sagt sie. Man gebe sich Mühe im Haus Birkholz. „Neulich habe ich von einem Ausflug Blümchen mitgebracht. Daran halte ich mich fest.“ Sie zeigt auf eine kleine Vase. Drin stecken ein paar Stängel Vergissmeinnicht. Nach dem Krieg hat sie ein zweites Mal ein Kind und einen Mann, den Heinz, ihre große Liebe, verloren. Als sie es erzählt, stockt ihr die Stimme. „Das war alles so grausam.“

Krieg, Bomben, Trümmerfrau, der einarmige Bruder, die Russen, die Tuberkulose und während der Luftbrücke Schichtdienst auf dem Flughafen Gatow, dort hatte sie den Heinz kennen gelernt. „Ich konnte ja kein Englisch, nur so ein paar Brocken.“ Ein Satz fällt ihr wieder ein: „Have you manifest?“

Wie in Zeitlupe lässt sie die Erinnerungen hinter sich, dreht den Kopf ganz leicht, sucht den Blick. „Ich habe gerne gelebt. Meine Tochter ist mein Glück.“

Horst I.

Einmal angefangen vom Krieg, kann Horst I., der in der Caféteria in Neukölln am Tisch mit der Narzissentischdecke sitzt, nicht aufhören, darüber zu reden. Nichts um ihn herum nimmt er wahr. Die Frauen nicht, die sich mit an den Tisch setzen und darüber reden, wie sie Pellkartoffeln über die Woche strecken. Auch nicht den Mann im Rollstuhl, der schweigend mit einer Frau am Nebentisch sitzt. „Moralisch“, sagt er, „war ich auch in Gefahr. Aber durch den Umstand, dass ich verwundet wurde, kam es nicht dazu.“

Wozu?

„Ich war doch nur vier Tage im Graben und davon zwei Stunden am Gewehr. Wir hatten keine Feindberührung.“ Die Verwundung – ein abgefälschter Schuss. In Gefangenschaft seien sie Tag und Nacht im Freien gehockt. Vier Monate lang. „Wenn es geregnet hat, war man nass.“

Haben Sie die Nazis und den Krieg nie in Frage gestellt?

„Nein, da war ich logischerweise dafür.“

Haben Sie Hitler mal gesehen?

„Ja, am 1. Mai 1939 im Olympiastadion. Da war ich zwölf. Ich war ja dafür, aber die Arme hochstecken und Heil, das hat mir nicht gefallen.“

Und die Angst, die Bombennächte und so?

Wenn die Flak schoss, seien die Nächte im Keller schneller vorbei gegangen.

Und nach dem Krieg?

„Da gab es andere Sorgen.“ Arbeitslosigkeit. „Ich muss Ihnen sagen, ich war ja nicht bei der Wehrmacht, ich war bei der SS.“ Später hat er SPD gewählt.

Helmut Bieske

Dieser Mann, zwölf Jahre jünger als Horst I., wartet, dass die Vergangenheit nicht vergeht. Mit kariertem Hemd sitzt er im Sessel im dritten Stock seines Zimmers im Haus Birkholz. 1939 geboren, Hauptsachbearbeiter bei den Berliner Verkehrsbetrieben, zwei Töchter. Seit sechs Wochen lebt er in der Senioreneinrichtung. „Die Bedienung hier ist einmalig.“ Sein Zimmer hat er mit riesigen Fächeralgen dekoriert. Die hätten ihm so gefallen, als er sie einmal auf einem Weihnachtsmarkt sah.

Zuhause sei er öfters umgefallen. Woran er leidet? Dies und das und „Alzheimer hab ich“, sagt er mit sanfter Stimme. Seine Frau sei 1994 gestorben. An Krebs. Jedes Jahr sei er mit ihr nach Fuerteventura gefahren. „Wir lieben Fuerteventura.“ Weil sie auch im neuen Jahrtausend nach Fuerteventura gefahren sind, wird klar, dass das mit 1994 nicht stimmen kann. Er geht zu seinem Nachttisch und sucht das Foto des Grabsteins. Drauf steht, dass sie 2009 gestorben ist. Sie wurde 69 Jahre alt.

Langeweile habe er keine. Er zeigt seinen Stundenplan, Ergotherapie, Physiotherapie, Gedächtnistraining, Memory. „Ich lass die Zeit an mir vorbei laufen.“

Warten Sie auf etwas?

„Wie meinen Sie das?“

Denken Sie an das, was war?

„Ja. Dass mein Leben schön war. Ich war 42 Jahre mit meiner Frau zusammen.“

Die Moabiter Pflanze

Im Salon des Haus Birkholz spielt eine Frau am Klavier. Stumm sitzen Bewohnerinnen an den Tischen, manche im Rollstuhl, manche mit Rollator. Sie trinken Kaffee, sie blicken ins Leere. Nur Gisela F. aus Moabit, einem alten Berliner Arbeiterbezirk, hat sich nicht dazu gesetzt. Die 1936 Geborene wandert in der Lobby auf und ab. „Dit olle Jeklimper.“ Sie mag lieber „Ringelpietz, Remmidemmi, Berliner Luft.“ Sie wiegt sich in ihrem roten Rock, dem rot-schwarzen Jackett schon beim Aufzählen in den Hüften. „Wie ich in dieses Siechenheim geraten bin, weiß ich nicht“, sagt sie. Bei ihren Kindern sei kein Platz.

Sieben Kinder hat sie. „Drei sind tot.“ Manchmal, wenn sie erzählt, sind auch vier tot. „Die Jüngste hat sich aufgehängt. Die Jüngste, meine Liebste.“ Sieben Kinder von zwei Männern. „Vom ersten drei. Wer nimmt denn eine mit drei Kindern, hat der zweite gesagt. Ich wollte keine mehr.“ Es ist anders gekommen. Der zweite Mann habe sie vergewaltigt, aber sie habe es dann gar nicht mehr gemerkt. „Ich brauchte auf dem Hof ja nur n‘ Kohleträger sehen, da war ich wieder schwanger.“ Ein Glück, dass die zwei Männer früh gestorben seien, meint sie. Aber dann, sieben Gören und kein Geld.

Gisela F. kann nicht aufhören zu erzählen. Auch von ihrer Mutter und ihren zwölf Geschwistern, drei gleich gefallen im Krieg. „Beim Gericht in Moabit wohnten wir. Und dann ausgebombt in der Rathenower Straße. Alles brannte. Da waren wir mit nackten Füßen auf der Straße.“

Was er sagt, kommt aus einem Paralleluniversium, von dem er sich erst lösen muss. Als er begreift, dass er angesprochen ist, beginnt er mit der Geburt. Und endet im Krieg

Ihr sei immer langweilig im Heim. „Sonst ist ja nichts.“ Und traurig ist sie auch. „Weil meine Jüngste, die war 18, die war meine Liebste.“

Sie selbst wolle der Tod nicht holen. Sie sei ja schon mal unterm Leintuch gelegen, aber wieder aufgewacht. Verbrüht, die ganze rechte Seite. Unter der Dusche ohnmächtig und dann das kochende Wasser immer „uff se druff“. Sie zeigt die Narben, die Hautverpflanzungen am Bein, am Arm. Die Finger der rechten Hand kann sie nicht mehr bewegen. „Ich denke an früher nicht mehr. Nur beim Erzählen fällt es mir wieder ein, der Krieg und wie die Bomben fallen. Wie spät ist es jetzt? Halb sechs? Noch ne halbe Stunde bis zum Essen.“

Lenchen Seidel

Vier Stockwerke höher in Zimmer 416, sitzt Leni Seidel am Fenster. Auch sie hat ihr Kind allein groß gezogen. Gearbeitet, was kam. Heimarbeit, in einer Ecke der Wohnung die Industrienähmaschine. Die Tochter erzählt, dass immer gespart wurde. Das Gesparte wurde aber auch ausgegeben. Sie gingen zu Karstadt und kauften sich jede für eine Mark Bonbons. Sie gingen zum Bahnhof Zoo, kauften sich eine Bahnsteigkarte und spielten: Wir verreisen.

Leni Seidel sagt, dass sie gerne gelebt hat. Später, als alles etwas besser war, war sie Mitglied im „Schmidtens Varieté“, tanzte Cancan, nähte die Kostüme, machte bei Bühnenbildern mit. „Herrlich, herrlich.“ Sie holt ein Fotoalbum aus einer Schublade, zeigt Beine schwingende Frauen auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Sie die Zweite von rechts. „Ich bin nicht krank, ich bin verbraucht.“ Ins Heim ging sie, weil sie „in Obhut“ sein wollte, erzählt die Tochter. „Es ist anheimelnd, wenn man sich abgefunden hat, dass es die letzte Stufe ist“, sagt Leni Seidel.

Sie zeigt den Dachgarten mit fantastischem Ausblick über Berlin, sie sagt „mein Dachgarten“, „mein Lieblingsplatz“. Ob sie hier zuhause ist? „Ich nehme es jetzt einfach mal an“, antwortet sie. Sie zeigt auch ihren Platz in der Küche. Dort isst sie drei mal am Tag. Es sitzen immer die gleichen Frauen mit ihr am Tisch.

Freundinnen?

Nein. „Hier hat jeder mit sich selbst zu tun und die meisten sind stumm.“

„Ich bin gerne hier“, sagt Leni Seidel zum Abschied, „aber es ist so ein Dahingehen.“

Horst I.

Horst I. sitzt am Tisch mit der Narzissentischdecke und erklärt, warum er bei der SS war. Vom Hörensagen hätte man gewusst, dass man bei der Infanterie dreißig, vierzig Kilometer am Tag marschieren muss „und die Verpflegung kommt nicht an.“ Im Wehrertüchtigungslager, wo er hin musste vor der Wehrmacht, habe man ihnen gesagt: Bei der SS ist man voll motorisiert und hätte gute Verpflegung. „Ich habe sofort unterschrieben.“ Achtzehn war er da. Dann habe er Glück gehabt, dass er gleich verwundet wurde. „Ich kam ja ganz gemütlich in den Krieg.“

Sagen Sie und die Liebe?

Er antwortet lange nicht.

„Ich habe eine Freundin getroffen. Wir waren immer pünktlich. Eines Tages kam sie nicht mehr.“

Haben Sie sie geliebt?

„Nein.“

Und Ihre Frau, wie haben sie die kennengelernt?

„Per Annonce.“

Haben Sie sie geliebt?

„Nein. Aber ich bin sechzig Jahre bei ihr geblieben. So Feuer und Flamme, das habe ich nie erlebt.“ Nur im Krieg. „Hinterher habe ich mich gefragt: Es können doch nicht alle nichts erlebt haben im Krieg – so wie ich. Niemand hat erzählt, dass er was erlebt hat.“

Sein wächsernes Gesicht hat Farbe bekommen beim Reden. „Ich bin froh, dass ich was los geworden bin.“

Er steht ganz langsam auf, greift nach dem Rollator. Darauf liegt seine abgegriffene Aktentasche. Sie ist dünn.