„Bitterer Kulturverlust“

LESEMARATHON Einen Tag lang tragen Zeitzeugen Texte vor, die 1933 das NS-Regime verbrannte

■ 67, pensionierte Verlags-Buchhändlerin und Initiatorin des Arbeitskreises „Bücherverbrennung – nie wieder“

taz: Frau Obens, 80 Jahre ist die nationalsozialistische Bücherverbrennung her. Wie erinnern Sie heute daran?

Helga Obens: Den Lesemarathon machen wir jetzt seit 13 Jahren. Das Format spricht viele Leute an, weil sie im Vorbeigehen stehen bleiben können und zuhören, auch wenn sie nur wenig Zeit haben. Man muss nicht den ganzen Tag da verbringen – diese Zeit haben sowieso nur Rentner. Es gibt einen guten Mix aus Texten, und manchmal entdeckt der eine oder andere auch sein eigenes Talent fürs Lesen.

Jeder kann mitmachen?

Ja, es gibt freie Leseplätze. Wir in der Nachkriegsgeneration Geborenen sind aber nur die Zeugen der Zeugen. Solange noch Zeitzeugen leben, müssen wir ihnen zuhören. Deswegen sprechen vor allem Überlebende: Esther Bejarano, die im Mädchenorchester in Auschwitz war. Oder Peggy Parnass, die den Kindertransport nach Schweden überlebte. Aber auch der SPD-Abgeordnete Wolfgang Rose, ehemaliger Landeschef der Gewerkschaft Ver.di, wird lesen – zusammen mit dem Musiker Abi Wallenstein, der Schauspielerin Sylvia Wempner und Schülern der Tucholsky- und Ida-Ehre-Schule.

Was ist Ihre Motivation für soviel Aufwand?

In Hamburg gab es fünf Bücherverbrennungen. Die Nazis haben uns einen bitteren Kulturverlust angetan, diese Lücke wollen wir schließen. Die Texte erobern wir zurück! Es gibt viele Autoren, die danach nie wieder verlegt wurden. Das Vergessen in den Köpfen der Menschen ist unser Ansporn. Wir entdecken immer neue Autoren, deren Bücher verbrannt wurden. Je mehr Steine man umwälzt, desto erschreckender ist das Ergebnis.

Bücherverbrennungen sind ein besonders drastisches Mittel der Zensur. Die gibt es auch heutzutage, so werden weltweit zum Beispiel Internetseiten gesperrt. Thematisieren Sie das auch?

Nein, denn es gibt in unserem eigenen Garten genug zu tun. Konkret zeigen wir, was in 12 Jahren Pressezensur in Deutschland passiert ist. Das sollen die Menschen begreifen. Es brauchte damals nicht viel, um auf der Zensurliste zu landen. War man Jude, Kommunist oder Sozialist, dann hatte man ganz schlechte Karten.

Haben Sie einen Favoriten unter den Autoren, um die es heute geht?

Joachim Ringelnatz: Er bringt die ganze Sinnlosigkeit der damaligen Aktion am besten zum Ausdruck.  INTERVIEW: JMK

Marathonlesung: 11–18 Uhr, Platz der Bücherverbrennung, Kaiser-Friedrich-Ufer/Bundesstraße