Herrliches Haar, hehre Hohlheit

TANZ Ein Festival mit eingebauter Steigerungs-Automatik: Am Wochenende lohnt der Besuch von „Dancing Roads“

VON HENNING BLEYL

Eine gut ausgeleuchtete Wade ist etwas Schönes. Zumal, wenn sie Arthur Bernard-Bazin gehört, der gerade in zwei Metern Höhe über ein schmales Holzkonstrukt balanciert. Sein großer Zeh tastet nach vorn, ins Nichts – und da ist sie auch fast schon wieder vorbei, die spannendste Szene von „Al Menos Dos Caras“. Das Stück der spanischen Compania Sharon Fridman eröffnete in der Bremer Schwankhalle das „Dancing Roads“-Festival.

Bernard-Bazins Sturz in die Tiefe markiert den Höhepunkt der preisgekrönten Produktion. Das Problem besteht nun darin, dass dieser Sturz am Anfang der Performance stattfindet. Mit anderen Worten: Was folgt, ist kein Aufbau, sondern dessen Gegenteil. „Al Menos Dos Caras“ ist, trotz seines internationalen Erfolgs wie zuletzt auf der Tanz- und Theater-Messe in Huesca, wo es als „beste zeitgenössische Tanzpräsentation“ ausgezeichnet wurde, kein Stück, das sich entwickelt. Keine Choreografie, die Wendungen nähme, Faszination durch szenische Verdichtung gewönne – oder in seine Expressivität auch einfach nur variieren würde. Stattdessen ist es seriell angelegt. Als Abfolge diverser Männerduos, in denen Sharon Fridman seine dunkelgelockten und Bernard-Bazin seine langen blonden Haare fliegen lässt. Denn Bernard-Bazins Solo, in dem er strauchelnd und sich drehend existenziellen Zweifel behauptet, wird am besten schweigend gedacht.

Wo ist das „kleine Wunder, ein Fest für die Sinne“, wie Roger Salas in El País schwärmt? Damit kann er unmöglich das nächtliche Zirpen der Grillen meinen, das Fridmann aus dem Off einblenden lässt, um der Begegnung der beiden Männer zu einer mediterran-melancholischen Aura zu verhelfen. Noch weniger das fortwährende Umeinandergewälze, wie man es – mit ein wenig Glück – so ähnlich auch einer besseren CI-Jam beobachten kann. CI steht für Contact Improvisation. Doch während es dort im steten, mitunter akrobatischen Fluss der gegenseitigen Gewichtsübergabe eben nicht um Darstellung, sondern um authentische Selbst- und Fremdwahrnehmung geht, ist „Al Menos Dos Caras“ offensiv theatral. Was aus der Differenz zwischen behaupteter Tiefe und tatsächlicher Performance entsteht, ist sattsam bekannt: Kitsch.

Positiv gewendet: Die Setzung von „Al Menos Dos Caras“ als Opener der gut eingeführten „Dancing Roads“ muss als Versuch interpretiert werden, der Festival-Dramaturgie zu einem sicheren Steigerungsverlauf zu verhelfen. Allerdings wäre das gar nicht notwendig gewesen: Am Samstag etwa ist mit Yasmeen Godder aus Jaffa eine Künstlerin zu Gast, deren choreografischer Ansatz deutlich vielversprechender ist: Anstatt zwei mähnige Youngsters aufeinander los zu lassen, experimentiert die Israelin mit der Konfrontation dreier Frauen unterschiedlichen Alters. Mit Stadien von Weiblichkeit, mit Konzepten von Selbstdarstellung – und mit hemmungslosem Humor. Also etwas, das bei „Mindestens zwei Gesichter“, wie „Al Menos Dos Caras“ übersetzt heißt, nicht zu den vorgesehenen Facetten zählte. Doch eben der bewirkt den Unterschied zwischen Trash und Kitsch. So gesehen liefert „Dancing Roads“ bestes Anschauungsmaterial für entscheidende Grenzverläufe.

Alle Festival-Termine: www.steptext.de