Die Nacht der öden Goldkehlchen

TROPHÄEN Die Grammy Awards sind so überholt wie das Grammophon. Höchste Zeit, einen viel interessanteren Preis zu verleihen: für den besten PR-Coup

Der Preis: Die Grammy Awards werden seit 1959 von der National Academy of Recording Arts and Sciences in Los Angeles verliehen. Ausgezeichnet werden Musiker in über hundert Kategorien von Klassik bis Polka. Doch jedes Jahr sind es die Kategorien Pop, Rap, Rock und R&B, die die größte mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Der Grammy-König: Niemand hat mehr goldene Grammophontrophäen verliehen bekommen als der klassische Dirigent Sir George Solti: Er wurde insgesamt 31-mal ausgezeichnet.

Die 52. Grammy-Verleihung: Als Favoritin bei der Preisverleihung am kommenden Montag in Los Angeles gilt R&B-Musikerin Beyoncé Knowles, die in diesem Jahr in zehn Kategorien nominiert ist und bereits zehnmal mit der Trophäe ausgezeichnet wurde. Die 19-Jährige Countrymusikerin Taylor Swift wurde in acht Kategorien nominiert. Die R&B-Gruppe Black Eyed Peas, Sänger Maxwell und Rapper Kanye West wurden je sechsmal für den Preis vorgeschlagen.

VON MEIKE LAAFF

Großes Staraufgebot auf dem roten Teppich. Frauenklatschzeitschriftendebatten, wem welche Robe besser gestanden hat. Wer mit oder ohne wen gekommen ist. Tränengerührte Dankesreden, ein paar inszenierte Witzchen, die in TV-Magazinen verwertet werden können. Mehr ist von der Verleihung der Grammy Award auch in diesem Jahr nicht zu erwarten. Zum Gähnen. Wäre es nicht höchste Zeit für einen neuen Musikpreis, einen, der die wahren Innovateure und Rock-’n’-Roller im Geschäft auszeichnet?

Weil es der Musikindustrie nicht gut geht, liegt auch ihre Oscar-Verleihung darnieder. Seit 1959 werden die Grammys von der National Academy of Recording in L. A. verliehen – meist an all jene, die ohnehin schon Rang und Namen haben. Darum gilt die Verleihung als langwierigste wie langweiligste im Geschäft. In diesem Jahr wird wohl R&B-Sängerin Beyoncé Knowles absahnen – aber interessieren wird das selbst Musikinteressierte kaum noch.

Schuld daran ist natürlich mal wieder das Internet. Der technische Fortschritt. Und der iPod. Wenn auf Abspielgeräten mehr Musikminuten herumgammeln, als man überhaupt Zeit zum Hören hat, wenn man Alben per Klick herunterlädt, statt ehrfurchtsvoll Booklets durchzublättern, zerbröselt das Konzept der Weltsuperstars, wissen wir kaum noch, wie die Bands aussehen, zu deren Musik wir tanzen.

Michael Jackson ist tot, Madonna ältlich, die Rolling Stones sind mumifiziert – und vieles von dem, was nachwächst, ist Mittelstand. Deutsche „Topacts“ wie die Kuschelrocker Silbermond stellt man sich ohnehin in Doppelhaushälften vor. Und auch international erfolgreiche Musiker, von Gossip bis Jamie Cullum, werden heute längst nicht mehr Jackson-artig reich.

Auch die Plattenfirmen durchleben magere Zeiten: Selbst legale Downloads spülen lange nicht so viel Geld in ihre Kassen wie CD-Verkäufe. Weswegen nur wenige Musiker mit dicken Werbekampagnen beworben werden. Und zwar meist die, die bei den Pop-Grammys abgefeiert werden. Statt Radio und Fernsehen ist heute das Internet zu dem Marktplatz geworden, auf dem an jeder Ecke die neue Hypeband des Jahres vor sich hin klimpert. Auf MySpace, Youtube oder last.fm kann die Musik kostenlos angehört werden. Nun geht es darum, wer laut genug trommelt, damit die Welt auf ihn aufmerksam wird. Nicht Musikpiraterie, sondern Anonymität ist das, wovor sich Künstler heute fürchten.

2006 machte die britische Band Arctic Monkeys vor, wie der Weg aus der Anonymität aussehen kann: Ohne Plattenvertrag im Rücken verschenkten sie Downloads ihrer Songs und wurden so über Nacht bekannt. Ein Schlag ins Gesicht für die Musikindustrie, die ihre Bedeutung, vielleicht sogar ihre Existenzberechtigung verliert in einer Zeit, in der jeder Musiker seine Songs selbst aufnehmen und veröffentlichen kann. In der die Anfertigung einer digitalen Kopie, anders als bei CDs, praktisch nichts mehr kostet.

Darum ein Vorschlag wider die Langeweile: Spannender, als die Branchen-Goldesel mit Trophäen zu bewerfen, wäre es doch, zu schauen, welcher Musiker den besten Marketing-Coup gelandet hat. Die britische Band Radiohead wäre dafür ein toller Preisträger: Ende 2007 veröffentlichte die Band ihr Album im Alleingang. Die Songs wurden auf der Homepage der Band als Download angeboten, zahlen sollte jeder dafür, was er für angemessen hielt. So nahm die Band zwar nur durchschnittlich sechs Dollar pro Download ein – bekam aber jede Menge Gratispromotion. Und eine Grammy-Trophäe für das beste Alternative-Album.

Twitterkrieg und leere CDs

Spannender, als die Branchen-Goldesel mit Trophäen zu bewerfen, wäre es, Musiker für Marketing-Coups auszuzeichnen

Aktueller ist der Twitter-Coup von Elektro-Hiphopperin M.I.A.: Als die New York Times Sri Lanka als nicht zu verpassendes Urlaubsziel empfahl, giftete die dort geborene Sängerin mit einer ganzen Salve von wütenden Tweets gegen die Zeitung, postete Schockfotos von Bürgerkriegstoten – und veröffentlichte nur Stunden später ihren neuen Song im Netz.

Weiterer Anwärter wäre US-Produzent DJ Dangermouse. Nach Zoff mit seiner Plattenfirma EMI erklärte er im Frühjahr 2009, eine Blanko-CD verkaufen zu wollen, und forderte seine Fans auf, sich seine Musik einfach aus dem Netz herunterzuladen und auf den Rohling zu brennen.

Charmant ist auch die jüngste Geschichte der Metaller von Rage Against The Machine: Ihr Song „Killing in the Name of“ kletterte siebzehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung kurz vor Weihnachten 2009 auf Platz eins der britischen Charts. Grund dafür: Eine Facebook-Gruppe wollte verhindern, dass wie jedes Jahr ein Retortenpopgeschöpf aus der Castingshow X-Factor pünktlich zu Weihnachten an die Spitze der Charts stürmt. Man verabredete, stattdessen „Killing in the Name of“ herunterzuladen – so oft, bis es den Poprivalen vom Chartthron stößt.

Lauter Beispiele, die zeigen, dass die Musikindustrie, die sich bei den Grammys feiert, die ganz große Zukunft schon hinter sich hat. Allen blitzenden Roben zum Trotz.