Fast wie im Film

Im Land der Lemuren schrumpfen die Wälder: Zum Erhalt der Lebensräume setzt Madagaskar auf Ökotourismus und die Freude an den Halbaffen

VON KERSTIN WOLTERS

„Madagascar“, eine DreamWorks-Produktion, hat die Kinokassen klingeln lassen. Seit dem 24. November ist nun auch die DVD im Handel, und dank der funktionierenden Merchandising-Maschinerie zieren die Konterfeis der Filmhelden bereits Taschentücher und Waschmittelkartons. Aber auf Madagaskar, in einem der ärmsten Länder der Welt, ist fast gar nichts wie im Film.

Völlig unbeeindruckt von der Touristenschar springen die Indris von Stamm zu Stamm, holen mit ihren langen Armen Äste heran und stopfen sich genüsslich Blätter ins Maul. Ohne Vorwarnung stimmen die koboldäugigen Wesen plötzlich ein ohrenbetäubendes Konzert an. Es ertönt ein polyphones Trompeten, ein Kreischen, als würde man Feuerwerkskörper in den Himmel jagen. Die gellenden Schreie durchdringen den ganzen Wald. „Halt! Bis hierhin und nicht weiter!“, heißt das, und es gibt nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem man die unheimlichen Laute dieser Lemuren hören und sie bestaunen kann: im Reservat Périnet bei Andasibe auf Madagaskar.

Nach den römischen Totengeistern, den lemures, wurden die Feuchtnasenaffen, deren Augen nachts wie glühende Kohlen leuchten, einst benannt. Lemuren waren die Geister der Verstorbenen bei den Römern, was sich mit dem Glauben vieler Madagassen deckt, die in den Lemuren die Wiedergeburt ihrer Ahnen sehen. Lemuria taufte man folglich die Landbrücke, die zwischen Vorderindien und Madagaskar gelegen haben soll. Über diese Verbindung seien die Lemuren auf den „achten Kontinent“ gelangt, so die Vermutung. Heute weiß man, dass die Plattentektonik für die isolierte Lage der viertgrößten Insel der Erde verantwortlich ist, auf der sich fernab von fremden Einflüssen in den vergangenen 150 Millionen Jahren eine einzigartige Flora und Fauna entwickeln konnte: Als Gondwana, der Urkontinent, zerbrach, wurde Madagaskar zur Arche Noah.

Die Lemuren gehören zur Familie der Halbaffen, der Vorläufer der heute auf der ganzen Welt verbreiteten Primatenarten. In Madagaskar konnten sich die Lemuren in Abwesenheit von natürlichen Feinden diversifizieren und weiterentwickeln, während sie in der restlichen Welt von den höher entwickelten Affenarten wie den Menschenaffen verdrängt wurden und fast vollständig verschwanden. Heute sind 69 Arten von Lemuren bekannt. In dünn besiedelten Gebieten Madagaskars wurden immer neue Arten entdeckt. Noch Anfang der Neunzigerjahre ging man von nur rund 30 Arten aus.

Der Indri, der mit dem außergewöhnlichen Gesang sein Revier markiert, ist der größte der Lemuren. Der Primat mit dem grauen, flauschigen Pelz, dem Stummelschwanz und den Pinselohren misst bis zu 90 Zentimeter und wird manchmal 60 Jahre alt. Ein ausgewachsener Indri frisst zwei Kilo Blätter pro Tag, wobei er sich seinen Nahrungscocktail aus dem Laub und den Früchten 40 verschiedener Bäume zusammenstellt. Ohne diesen speziellen Mix stirbt er. Ein Umstand, der verhindert, dass aus dem Indri jemals ein Zootier wird.

Vom tropischen Regenwald auf Madagaskar, seinem Lebensraum, ist nur mehr ein schmaler Streifen zwischen der Ostküste und dem Hochland übrig, in dem sich auch das Reservat befindet. Über 90 Prozent des gesamten Inselwaldes wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch massives Abholzen und Brandrodung vernichtet. Die Holzkohlegewinnung, oftmals einzige Einnahmequelle für die Ärmsten der Bevölkerung, und der Wanderfeldbau tragen zur Zerstörung weiterer Flächen bei.

Die madagassische Regierung unter Präsident Marc Ravalomanana setzt zur Rettung von Flora und Fauna mittlerweile vermehrt auf ökologisch verträglichen Tourismus. Das Reservat Périnet ist landesweit nur eine von vielen staatlichen Schutzzonen, die unter Aufsicht des Landwirtschaftsministeriums stehen. Die Verwaltung der Parks wurde von der nationalen Naturschutzbehörde und dem World Wide Fund For Nature (WWF), der sich bereits seit 1963 im zoologischen Raritätenkabinett Madagaskar engagiert, übernommen. Mit den Eintrittsgebühren für die Naturreservate werden die Erhaltung der Wege und die Ausbildung von Führern finanziert. Wer als Tourist ein Reservat besucht, muss einen einheimischen Guide mitnehmen. Naturschutz schafft Arbeitsplätze, heißt die Botschaft, die sich auch in den Köpfen der Einheimischen festsetzen soll.

Adrien Raharinaina weiß, wie sanfter Tourismus, der Erhalt des einmaligen Ökosystems und die Bedürfnisse der Bevölkerung miteinander in Einklang zu bringen sind. Er hat in Antananarivo, Madagaskars Hauptstadt, Naturwissenschaft studiert und vor vier Jahren das Anja-Lemuren-Reservat gegründet. Mit Lemuren Touristen locken, das ist die Geschäftsidee, die hinter dem Projekt steckt. Die Gebühren, die das Reservat bei Ambalavao im Süden Madagaskars einnimmt, werden dazu verwendet, ein modernes Reisanbausystem in der Gemeinde zu etablieren.

Die jungen Pflanzen wachsen nun in Reih und Glied, nicht mehr querbeet wie bisher. Es kommen andere Sorten zum Einsatz, die Felder werden besser bewässert und gedüngt. „Früher haben wir zwei Tonnen Reis pro Hektar geerntet, heute sind es 500 Kilo mehr“, sagt Raharinaina nicht ohne Stolz. Das wirtschaftlichere Prinzip des höheren Ertrags auf kleinerer Fläche kommt den Reisbauern jetzt ebenso zugute wie der Natur. Es können mehr Mäuler gestopft werden, ohne dass weitere Flächen gerodet werden müssen.

Rund 50 Kattas tummeln sich im Wald des Anja-Lemuren-Reservats. Wie eine Mischung aus Katze, Waschbär und Eichhörnchen sehen die Lemuren mit ihrem langen Ringelschwanz aus, der als Duftwedel, Balancierstange und Signalfahne dient. Ganz im Sinne des Projekts tun sie meistens das, was der gemeine Tourist von ihnen erwartet: Sie lehnen mit ausgebreiteten Armen und Beinen am Baumstamm, lassen sich die Sonne auf den Bauch scheinen und sehen dabei unheimlich niedlich aus. Fast wie im Film.