Schuld war eine Klebemarke

Seine Lordschaft Ralf Dahrendorf ist zu Gast im Hanse-Kolleg Delmenhorst und nutzt die Zeit zum Korrekturlesen

Bremen taz ■ Was macht ein Lord in Delmenhorst? „Gestern Abend habe ich die Stadt besichtigt“, sagt Lord Ralf Dahrendorf. „Und sonst kann ich hier gut Druckfahnen Korrektur lesen.“ Diese Woche verbringt der einstige EG-Kommissar, Oxford-Prorektor und liberale Vordenker im Hanse-Wissenschaftskolleg, jener Insel des Geistes am Rand des Deichhorster Shoppingcenters. Er diskutiert mit Kollegen, hält ein Seminar für Fachpublikum und stellte am Dienstag Abend vor sechshundert handverlesenen Gästen im Kleinen Haus seine Idee eines „offenen Europas“ zur Diskussion.

Träumen von den „Vereinigten Staaten von Europa“ erteilt Dahrendorf eine Absage. „Einheit ist nur erstrebenswert, wenn die Freiheit gefördert wird.“ Freiheit besetze für ihn den obersten Platz in der Wertehierarchie, Gleichheit und soziale Errungenschaften müssen dahinter zurückstehen.

Erfahrungsgemäß ist es um die Freiheit in Zeiten der Terrorbekämpfung schlecht bestellt. „1989 haben liberale Werte weltweit obsiegt. Ich hatte nicht erwartet, dass sie danach noch einmal in die Defensive geraten würden“, sagt Dahrendorf und wehrt sich gegen jegliche Einschränkung der Freiheitsrechte im Namen der Sicherheit. „Wer die Zulassung von Folter erwägt oder sich wie Tony Blair für eine Ausdehnung der Haft ohne Anklage einsetzt, muss sich fragen, was er eigentlich verteidigt.“ Werte der Freiheit zumindest nicht.

Der Soziologe holt aus zum Seitenhieb gegen Kollege Habermas, „den ich sehr schätze, obwohl ich fast in allem anderer Meinung bin: Seine Argumente für Europa –bei uns wird das Soziale großgeschrieben, und die Union bildet einen Gegenpol zu den USA – überzeugen mich überhaupt nicht.“ Die Welt sei größer als Europa. Junge Leute wüssten das, die sich lieber für einen Studienplatz in den USA bewerben.

War es ein weiter Weg vom Sozialdemokraten zum Liberalen? Seine Lordschaft gerät ins Plaudern: über anregende Zeiten im Hamburger SDS und die damalige SPD-Führung, die sie in den 50er-Jahren „Offiziere“ nannten. Das Parteibuch ging flöten, als er im Ausland das Mitgliedsmarken-Kleben vergaß. So einfach war das. abe