Kostenfrei strafversetzen

Senat kürzt sozial schwachen Schülern das Fahrgeld, obwohl sie durch Schulschließungen längere Wege haben. Berufsschullehrer fürchten, dass Schüler schwarzfahren oder zu Fuß laufen müssen

600 Euro im Jahr? „Als Hartz IV-Empfänger kann ich das nicht bezahlen“

Von Kaija Kutter

Die Folgen der eigenen Politik bedenken ist nicht jeder Senatorin Sache. Schon im Jahr 2004 untersagte Alexandra Dinges-Dierig (CDU) der Stadtteilschule Röthmoorweg im sozialen Brennpunkt Schnelsen-Süd, eine neue 7. Klasse einzurichten, seit 2005 darf dort auch keine neue 5. Klasse mehr entstehen. Die Folge: Rund 100 Schüler müssen seither zur Schule Sachsenring im fünf Kilometer entfernten Stellingen fahren. Doch jetzt kommt Schachzug Nummer zwei: Ab 1. Januar 2006 zahlt die Bildungsbehörde sozial schwachen Familien keine HVV-Karte mehr.

„Ich bin völlig fassungslos“, sagt der Familienvater Stefan Bölke. „Erst werden wir nach Stellingen strafversetzt und dann streichen sie uns die Fahrkarten.“ Er hat vier Kinder im Alter von 14, 13, zwölf und neun Jahren und lebt, ebenso wie seine von ihm getrennte Frau, als Ein-Euro-Jobber von Arbeitslosengeld II. Anfang der Woche brachten seine ältesten beiden Söhne einen Brief aus der Schule mit, in dem die Bildungsbehörde mitteilt, „bedauerlicherweise“ sei das Schülerfahrgeld „nicht mehr finanzierbar“.

Um aber „die Wahl der richtigen Fahrkarte zu erleichtern“, war ein Informationsschreiben des HVV beigelegt. 30,30 Euro im Monat kostet eine Schülerjahreskarte, 52 Euro für zwei Geschwister, das sind für Bölke über 600 Euro im Jahr. „Als Hartz IV-Empfänger“, so sagt er, „kann ich das nicht bezahlen.“

Insgesamt an zwölf Schulen, (darunter sieben Haupt- und Realschulen, zwei Gymnasien und drei Gesamtschulen), hatte Dinges-Dierig vor Jahresfrist Schließungen und Teilschließungen erwirkt, die für Schüler in meist sozial schwachen Gebieten zu längeren Wegen führen: Sei es von Steilshoop nach Barmbek, von Hasselbrook nach Winterhude oder von Jenfeld bis nach Dulsberg. Auch in Rothenburgsort, so berichtet die SPD-Abgeordnete Carola Veit, wurde der einzige weiterführende Zweig an der Fritz-Köhne-Schule geschlossen. Folge: Die Schüler der Klassen 7 bis 10 müssen 20 Minuten Busfahrt bis zur Veddel oder längere S-Bahn-Fahrten über die Elbe bis nach Hamm zu den Schulen Griesstraße und Osterbrook in Kauf nehmen. In einer Stadt mit gut ausgebautem Nahverkehr sei dies kein Hindernis, hatte Dinges-Dierig argumentiert. Es sei damals, so korrigiert heute ihr Sprecher Alexander Luckow, nur um die „Möglichkeit des HVV-Netzes“ gegangen.

Eigentlich sollte das Schülerfahrgeld schon im Sommer entfallen. Doch im Juni, als es Ärger um die Einführung des Büchergeldes gab, beschloss die CDU auf ihrer Klausurtagung zur Familienpolitik die Sache bis Jahresende zu strecken. Der Coup gelang. Obwohl diese Einsparung ein „echter Hammer ist, weil er nur die Schwachen trifft“, wie GEW-Chef Klaus Bullan moniert, regte sich kein Protest. Erst seit einer Woche beraten Lehrerkollegien vor allem der Berufsschulen, wie sie mit Protestbriefen den Beschluss noch stoppen können.

Besonders die Schüler der Berufsvorbereitungsklassen, die noch nicht Bafög-berechtigt sind, machen den Lehrern Sorgen. „Unter meinen Schülern herrscht große Wut“, berichtet Lehrerin Brigitte Domes von der Gewerbeschule 17 in Wilhelmsburg. „Sie sagen, sie kommen nicht mehr zur Schule oder fahren schwarz.“ Würden sie dabei erwischt, bekämen sie Strafverfahren. Domes unterrichtet eine „Vorbereitungsklasse für Migranten“, deren Schüler teilweise aus Bergedorf oder Barmbek anreisen und nur 180 bis 200 Euro zum Leben haben. Auch die deutschen Schüler aus den parallelen Berufsvorbereitungsklassen, die „eh schon schwer zu motivieren sind“, würden nicht mehr kommen.

Doch die Bildungsbehörde sieht keine Chance, den Sparbeschluss zurückzunehmen. „Wir können leider nicht mehr weiterhelfen“, sagt Luckow. Die Kürzung sei „geltender Senatsbeschluss“. Es sei bei den Fahrkarten für Sozialhilfeempfänger und Geringverdienende um eine „freiwillige Leistung“ gegangen, zu der die Stadt, „nicht gesetzlich verpflichtet ist“.