Aus Enttäuschung militant

MISSION Nach 140 Interviews in 10 Jahren legt der amerikanische Soziologe Mark Juergensmeyer seine Studie über die „Globalisierung religiöser Gewalt“ vor

Der Autor plädiert dafür, die Perspektive der religiösen Aktivisten einzunehmen, nicht um sie zu verteidigen oder zu rechtfertigen, sondern um ihre Motive besser zu verstehen

VON RUDOLF WALTHER

Zur Signatur des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts gehört das verstärkte Auftreten von religiös motivierter Politik und religiös fundierter Gewalt. Die Studie des amerikanischen Soziologen Mark Juergensmeyer beruht auf rund 140 Interviews, die der Autor in den vergangenen zehn Jahren mit religiösen Aktivisten aus allen Weltgegenden geführt hat. Im alltäglichen Sprachgebrauch nennt man diese Aktivisten in der Regel „Fundamentalisten“. Für Juergensmeyer ist dieser Begriff nur ein irreführendes Etikett, das religiös motivierten Aktivisten von vermeintlich aufgeklärter säkularer Seite in abwertender Absicht umgehängt wird. Der Autor plädiert dafür, die Perspektive der religiösen Aktivisten einzunehmen, nicht um diese zu verteidigen oder ihr Tun zu rechtfertigen, sondern um ihre Motive besser zu verstehen.

Der Perspektivenwechsel erweist sich als fruchtbar für die Darstellung von Akteuren und Bewegungen, die religiöse und politische Interessen bewusst mit ihrem Kampf um Macht und Anerkennung verbinden. Diese Verflechtung von Politik und Religion jedoch, so zeigt Juergensmeyer, ist keine islamische Spezialität: „Praktisch jede Religion hat auf die eine oder andere Weise eine religiös motivierte Rebellion hervorgebracht.“

Kompaktes Feindbild

Religiös motivierte politische Bewegungen zeichnet zweierlei aus: Zum einen fehlt ihnen beim säkularen Politikverständnis zum Beispiel der liberalen Demokratie die moralische und spirituelle Dimension. Politik ohne religiöses Fundament erscheint diesen Bewegungen als defizitär und unfähig, eine lebenswerte Ordnung zu stiften.

Vor allem aber sind religiöse Bewegungen enttäuscht vom Nationalstaat und vom säkularen Nationalismus. Anhand der Entwicklungen Indiens, Algeriens, und Ägyptens zeigt Juergensmeyer, wie der eben emanzipierte Nationalstaat die hohen Erwartungen nach der Befreiung dieser Länder aus der kolonialen Bevormundung rundum enttäuscht hat. Der säkulare Nationalismus hat den Bevölkerungen in diesen Ländern weder Wohlstand noch Demokratie gebracht, sondern sie in Armut gelassen und in mehr oder weniger diktatorische oder oligarchische Verhältnisse gestürzt. In der Art, wie sich der säkulare Nationalismus gegen diese Kritik wehrt bzw. den säkularen Nationalismus als einzig möglichen Weg der Entwicklung propagiert, erkennen die Führer religiöser Bewegungen „eine Art neuer Religion“ oder eine „Westomanie“, wie sich der iranische Revolutionsführer Chomeini ausdrückte. Juergensmeyer zeigt, wie sich säkularer Nationalismus, christlicher Nationalismus und europäischer Kulturimperialismus bei religiösen Bewegungen von Muslimen, Sikhs, Hindus, Buddhisten und militanten Christen zum kompakten Welt- und Feindbild verdichteten.

Vehikel und Dämonen

Gesellschaften, die sich selbst als fragil, verwundbar und belagert wahrnehmen und die den Staat nur noch als repressive Instanz erleben, neigen besonders zu religiös motivierten politischen Bewegungen. Die Religion dient dann ebenso als „Vehikel gesellschaftlicher Mobilisierung“ wie zur „Rechtfertigung von Gewalt“ in einem Konflikt, in dem der säkulare Gegner dämonisiert wird. Konfliktverschärfend wirkt sich auch aus, wenn die säkulare Seite vom „Kampf gegen das Böse“ oder vom „Krieg gegen den Terror“ spricht.

Das Buch von Juergensmeyer gibt detaillierte Auskünfte über die Geschichte und die Entwicklung religiös motivierter Bewegungen nicht nur im Nahen Osten und in Indien, sondern auch in den zentralasiatischen und kaukasischen Staaten sowie in den militanten evangelikalen Gruppen in den USA, in Nordirland oder in den radikalen Sekten in Japan. Gelegentlich verliert sich der Autor in Details, die den Leser etwas strapazieren, aber insgesamt bietet das Buch grundsolide Information. Einzig im Kapitel über islamistische Netzwerke verirrt sich Juergensmeyer in verschwörungstheoretischen Spekulationen über den sehr langen Arm von Ussama Bin Laden und al-Qaida oder den vermeintlich entscheidenden Einfluss des von Nasser hingerichteten Muslimbruders Sayyid Qutb. Der hatte zwar eine radikale Vorstellung vom reinen Islam, aber nicht von dessen Verbreitung mit terroristischen Mitteln.

Mark Juergensmeyer: „Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida“. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer. Hamburger Editionen 2009, 485 Seiten, 35 Euro