berliner szenen Kurz vor Ladenschluss

Sanitäre Notlage

Kurz vor Ladenschluss stehe ich an der Kasse bei Extra. Hinter der Kassiererin baut sich ein ungesund aussehender Mann in hellbeiger Bomberjacke auf. Er fährt sich nervös mit der Hand durch die strähnigen Haare und versucht, eine Frage anzubringen. „Da ist nur eine Sorte Kloreiniger“, platzt es aus ihm heraus, während er verzweifelt mit den Armen rudert, „gibt es keinen anderen?“ – „Weiß ich nicht“, sagt die Kassiererin sehr schnell und fast ohne sich umzudrehen. Der Typ soll abhauen, keine Frage. „Es ist kurz vor acht und ich brauch dringend …“, presst er hervor, unterbricht sich dann selber und wirft den Kopf zur Seite, weil er sich für den nächsten Satz erst wieder neu zusammenreißen muss. „Ist hier jemand, der mir das zeigen kann?“, fragt er in mühsamer Beherrschung. „Weiß ich nicht.“ Die Kassiererin will nichts mit der ominösen Kloreinigeraffäre zu tun haben. Mit einem Jaulen wendet sich der Mann ab und hinterlässt eine Reihe ungelöster Fragen.

Wie kann der Einsatz von WC-Reiniger so dringlich sein, dass er am nächsten Tag oder womöglich schon in einer Stunde zu spät käme? Warum kann der Reiniger in so einer Notlage nicht durch eine andere Sorte ersetzt werden? Und warum sucht der Mann seine Sorte nicht dort, wo er den falschen Reiniger entdeckt hat? Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass ein alternatives Mittel unberechenbar irgendwo zwischen Haferflocken, Fertigpizza oder Milchprodukten lauert.

„Feierabend!“, rufen sich die Kassiererinnen zu. Benommen verlasse ich den Extra. Aus dem Augenwinkel sehe ich den Mann noch vor einem Regal hocken. Ich glaube inzwischen, dass er nur sucht, um zu suchen; und wenn er nicht gestorben ist, dann tut er es wohl heute noch.

KATHARINA HEIN