Happy Sunniten gegen Schiiten, Araber gegen Kurden, korrupte Politiker und der IS: Das sind die Schwarz-Weiß-Bilder vom Irak. Die Verhältnisse sind weit komplizierter – und bunter. Fünf Iraker erzählen
: Mensch, Bagdad

von Francesca Borri
(Text/Protokolle) und Ali Arkady (Fotos)

Wir machen es uns gewöhnlich einfach mit dem Irak und seinen 35 Millionen Einwohnern, wir teilen ihn in einen schiitischen Süden, ein sunnitisches Zentrum und einen kurdischen Norden ein. Jede Stadt und jeder Bezirk des Irak setzt sich aber aus einer anderen Mischung ethnischer Gruppen und Bekenntnisgemeinschaften zusammen. Sie besteht aus Irakern, die ihre gemeinsame Religion und Abstammung ganz unterschiedlich verstehen.

Alles in allem stimmt es, ein Großteil der Bevölkerung – etwa 60 Prozent – ist schiitisch. Trotzdem ist der Irak nicht in eine klare Minderheit und Mehrheit geteilt, man sollte eher von vielen „Patchwork-Minderheiten“ sprechen. Man erkennt schnell: Dort, wo eine Gruppe herrscht, tut sie es wegen des Krieges und der Gewalt, als Folge von Zwangsumsiedlungen und vereitelten Möglichkeiten, zurückzukehren. Mit anderen Worten: Homogenität ist, wo sie herrscht, von künstlicher Natur. Sie ist von Menschen gemacht. Der Normalzustand im Irak, und nicht nur im Irak, ist Koexistenz.

Darum wurde eine Entscheidung gefällt, für die vor allem die Vereinigten Staaten schuldig gemacht werden. Nach dem Sturz von Saddam Hussein errichteten sie ein politisches System, in dem jedes Amt mit einer Konfession verknüpft wurde. So wie im Libanon. Oder in Bosnien. Heute muss das Staatsoberhaupt im Irak ein Kurde, der Ministerpräsident ein Schiit und der Sprecher des Parlaments ein Sunnit sein. Ohne Rücksicht auf die äußeren Umstände. Ganz gleich, was ihre Fähigkeiten sind, und unabhängig von den Wahlergebnissen, dem Willen des Volkes.

Diese Entscheidung fußte auf der falschen Annahme, Sunniten und Schiiten stünden sich unversöhnlich gegenüber. Es war aber wie eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllte, beklagen sich viele Iraker. Das System hat sich nicht den bestehenden Unterschieden angepasst, sagen sie. Es hat die Gesellschaft erst recht geteilt.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf ethnische Zugehörigkeit, auf religiöse und kollektive Identitäten. Und doch gibt es eine Gruppe, die völlig unbemerkt im Irak existiert: die Iraker, denen man Tag für Tag über den Weg läuft. Iraker aus allen Altersgruppen, allen Schichten und Klassen, allen Gebieten des Landes. Während Sunniten und Schiiten in den Straßen aufeinander losgehen, warten sie – eingeschlossen in ihren Häusern – auf den Tag an dem das endlich alles aufhört.

Übersetzung: Christina zur Nedden

Francesca Borri, 35, ist freie Kriegskorrespondentin und stammt aus Italien. Seit 2012 berichtet die frühere Menschenrechtsspezialistin aus dem Nahen Osten, mit Schwerpunkt Syrien

Ali Arkady, 33, fotografiert im Irak für nationale und internationale Medien. Daneben arbeitet er an dem Langzeitprojekt „Happy Bagdad“, Porträts von jungen Irakern, aus dem die Bilder auf diesen Seiten stammen

Murtadha, 23

„Ich habe zwei Träume. Der eine ist, Fotograf zu werden, der zweite, Rotwein zu trinken. Denn mein bester Freund ist Italiener. Nicola. Er kommt aus Pavia, er studiert Geologie.

Wir haben uns vor drei Jahren in Istanbul kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich. Aber nur auf Facebook, WhatsApp und Skype, denn für einen jungen Iraker ist es unmöglich, ein Visum für Europa zu bekommen.

Nicolas Eltern tun ihr Bestes, um mir mit den Papieren und mit der Botschaft zu helfen. Das Antragsverfahren ist wie ein Labyrinth: Du brauchst drei Einladungsschreiben, eine Krankenversicherung, eine Bankeinlage von mehreren tausend Dollar und ein Interview, ähnlich wie bei einer Bachelor-Prüfung.

Natürlich glaubt jeder, dass ein 23 Jahre alter Araber nach Ita­lien kommt, um zu bleiben. Dass er nicht mehr geht. Und deswegen wurde ich nie zu dem Interview eingeladen. Deine Bewerbung wird ohne Begründung abgelehnt, und du weißt nicht, ob es Sinn macht, es noch einmal zu probieren. Aber ich will nicht nach Italien ziehen. Wir sitzen nicht alle auf gepackten Koffern.

Europa ist für mich eine andere, seltsame Welt. Genauso, wie es für euch der Mittlere Osten ist. Ich würde mich nicht anpassen und zu Hause fühlen, nur weil es einen Kebab an der nächsten Straßenecke gibt. Ich möchte hier leben. In Bagdad.

Ich will einfach nur reisen, wie ihr auch. Fortgehen und wiederkommen. In Italien möchte ich die Schauplätze meines Lieblingsfilmemachers Giuseppe Tornatore anschauen. Ich will Sizilien sehen. Ich verstehe nicht, warum ihr so egozentrisch seid. Zu Beginn war auch meine Familie misstrauisch, nicht nur die von Nicola. Seine Eltern hatten Angst, ich könnte ein Islamist, ein Terrorist sein – und meine glaubten, dass er ein Drogenschmuggler sein könnte oder ein Waffenhändler. Denn Italiener sind doch gefährlich, oder? Die Mafia ist überall.“

Zee, 23

„Ich war an der Stadtgrenze unterwegs, um zu filmen. Ich lief durch die staubigen Gassen. Etwas wirkte seltsam, zwischen diesen eingestürzten Gebäuden und leeren Häusern. Dann wurde mir klar: Es gab hier keine Männer. Nur Frauen. Die Männer waren tot. Und da war diese alte Frau, die alle verloren hatte: ihren Mann, ihre Söhne, ihre Enkel – alle. Sie war so verzweifelt, hatte so viel und lange geweint, jahrelang, dass sie blind davon geworden war.

Könnt ihr euch vorstellen, wie das für ein Kind ist, hier aufzuwachsen? In dieser Hölle?

Ich bin Dokumentarfilmerin, deshalb beschäftige ich mich mit sozialen Fragen. Mit den sozial Schwachen, dem Elend, der Ungleichheit, die sowohl die Ursache und das Produkt von Gewalt sind, und die trotzdem von den Medien vernachlässigt werden, die sich nur auf die Kämpfe an der Front konzentrieren. Auf die Kämpfer. Ohne sich je zu fragen, wo diese Kämpfer herkommen. Ihre Geschichte, ihre Gründe. Und ich mache Filme, weil ich glaube, dass ich dadurch etwas ändern kann: indem ich Geschichten erzähle. Es geht nicht nur darum, etwas aufzudecken. Sondern darum, Augenzeuge zu sein und Dinge zu verfolgen. Erinnerungen zu schaffen. Es geht nicht nur um die Zukunft.

Als ein Vater eine meiner TV-Dokumentationen über Bettler anschaute, erkannte er seinen Sohn wieder. Der Junge war vier Jahre zuvor entführt worden, und die Polizei konnte ihn schließlich befreien.

Gerade arbeite ich an einer Geschichte über Traumata des Krieges. Ein Thema, über das niemand spricht, weil es im Irak als Erniedrigung gesehen wird, ist, nach professioneller Hilfe zu fragen. Aber wenn du an diesem Ort um die 30 bist, wenn du um die 20 bist, ist der Krieg das Einzige, was du kennst. Im Irak müssen sich nicht mehr Verhandlungsführer der Gewalt annehmen, sondern Psychologen.“

Ahmed, 24

„Es gibt keine guten oder schlechten Bücher. Es gibt nur Bücher, denen du dich nah fühlst, die dich fesseln oder eben nicht. Einer meiner Lieblingsdichter ist Rilke. Rilke, wenn er schreibt: Das Leben ist kurz, aber der Tag ist lang. Weil Bagdad eine Stadt ist, die dir noch mehr Energie gibt.

In Bagdad ist nie etwas genug. Du bist nie fertig. Es ist eine Stadt der Vielfalt. Eine Stadt, die einen Hauch seiner Einwohner trägt, Schicht um Schicht. Von Generation zu Generation. Alles hier bezieht sich auf eine andere Geschichte. Hält eine andere Welt. Alles erinnert an eine andere Zeit.

Bagdad ist eine Brutstätte der Fantasie. Wenn du hier lebst, bist du gewohnt, ein intensives Leben zu leben, vor komplexe Fragen gestellt, endlos mit moralischen und intellektuellen Herausforderungen konfrontiert. Deine Identität. Das Andere, der Unterschied, der Austausch. Gegenseitige Anerkennung. Gerechtigkeit. Würde, Freiheit. Kampf oder vielleicht Widerstand – für euch alles Themen für eine Doktorarbeit. Hier ist es ein Gespräch mit Freunden beim Tee.

Ich liebe Rilke noch aus einem zweiten Grund: Den Namen zu hören, erwartet niemand von einem Iraker. Eurer Meinung nach, und der vieler Araber, gehört Rilke nicht zu meiner Kultur. Ich bin schwarz, meine Vorfahren waren aus Kenia, ich mag Rilke, ich mag Roth und Franzen und Dance Music – einfach weil ich es mag.

Jeder denkt hier nur an die Vergangenheit. Aber wir sind nicht nur unsere Traditionen. Letztendlich sind wir das, was wir sein wollen: das Produkt unserer selbst.“

Hisham, 32

„Ich habe keine Gefühle für Bagdad. Und ehrlich gesagt, ist es Zeit, diese Rhetorik, die sich an Orten festmacht, hinter uns zu lassen. Deine Wurzeln, deine Heimat. Bagdad hat für mich keine Bedeutung. Überhaupt keinen Wert. Wenn ich an Bagdad denke, denke ich nur an meine Freunde. An mein Leben. Alles andere interessiert mich nicht. Jeder erwartet, dass du dich für dein Land opferst, für deine Leute. Aber hat mein Land sich je für mich geopfert?

Was habe ich vom Irak bekommen? Mein Bruder ist an einer gewöhnlichen Krankheit gestorben. Einer heilbaren Krankheit. Er ist nicht gestorben, weil es keine Medizin gab. Nicht wegen des Krieges, der Armut, nicht wegen der Vereinigten Staaten oder der Sunniten und Schiiten. Nein, mein Bruder wurde einfach fahrlässig getötet. Durch Unwissenheit und Kunstfehler. Wir haben nach einer Autopsie gefragt. Zumindest baten wir die Ärzte, den Fall zu prüfen und aus ihren Fehlern zu lernen. Sie haben nicht reagiert. Ein dummer Tod und auch eine nutzloser Tod.

In diesem Land funktioniert nichts, und alle geben George W. Bush die Schuld, Paul Bremer, dem ehemaligen Gouverneur des Irak, und der Religion. Aber niemand versucht, die Dinge zu verbessern. Niemand versucht, ein professioneller Arzt zu sein, statt seine Zeit damit zu verschwenden, über den Iran und Saudi-Arabien zu streiten.

Hier wirst du aufgefordert, ein loyaler Bürger zu sein und zu kämpfen. Also nicht nur Steuern zu zahlen und dem Gesetz zu gehorchen. Du wirst aufgefordert, dein Leben zu riskieren. Aber für was?

Es ist Zeit, sich auf die Menschen und nicht auf die Orte zu konzentrieren. Es ist Zeit, Landkarten zu vergessen, Geografie zu vergessen und nicht mehr zu fragen, was diese Stadt für uns bedeutet, was uns mit diesem Land verbindet. Stattdessen sollten wir fragen, was wir uns selbst bedeuten. Was uns gegenseitig verbindet. Es ist Zeit, Prioritäten umzudrehen. Wie James Joyce sagte: Lass mein Land für mich sterben.“

Ammar, 21

„Ich komme aus einer Familie von Hardlinern, aus einem der ärmsten und gefährlichsten Slums von Bagdad. Einem schiitischen Viertel, in dem jeder einer Miliz angehört. Auch ich träumte als Kind davon, ein Kämpfer zu werden. Denn als Kind wird dir von gütigen, mutigen Kriegern erzählt, die bereit sind, zu sterben, um dich zu verteidigen. Um für Gerechtigkeit zu sorgen.

Ein Slum ist ein Slum: Du bist vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Der Anpassungsdruck ist …, nein, das ist das falsche Wort. In Wahrheit gibt es keinen Druck, denn es gibt nur ein Lebensmodell, das niemand infrage stellt. Keiner weiß, dass es auch anders läuft im Rest der Welt.

Eines Tages ging ich zufällig in ein Theater. Es lief eine Vorstellung über die Nachbarschaft, in der ich lebe – kritisch gesehen, natürlich. Besser: mit einer Perspektive, über die ich noch nie nachgedacht hatte. Unsere Kämpfer waren keine Helden, sondern Gangster. Nicht von Idealen getrieben, sondern von Geld und Macht. Das war der Moment, an dem sich für mich alles änderte.

Ich entdeckte meine Neugier für das, was außerhalb meiner kleinen Welt vor sich ging. Ich erkannte, dass ich ein Mensch bin. Ich bin nicht Schiit, nicht meine Familie, ich bin auch nicht meine Nachbarschaft – wo natürlich niemand meine Entscheidung unterstützt. Ich bin ein Student, ich bin kein Kämpfer: Ich bin ein Verräter. Denn wenn ich „mein Land“ verteidigen müsste, wäre das an keiner Kriegsfront. Es wäre auf der Straße und ich würde Menschen einschüchtern – mit meiner AK-47 und der Sturmhaube über dem Gesicht, ernsthaft überzeugt, stark zu sein – wie all meine Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin. Die nie etwas anderes in ihrem Leben gesehen haben. Die glauben, sie sind die Starken.

Dabei sind sie diejenigen, die angegriffen werden, die man verteidigen muss, Verletzliche – weil sie nicht existieren. Sie sind einfach nur das, was ihr Umfeld aus ihnen gemacht hat.“