„Ich dachte, es berührt mich nicht„nicht“

INGE BUCK Sie wollte eigentlich nur einen Wochenend-Workshop zum Schreiben „Kriegskinder-Literatur“ leiten. Daraus wurden ein Jahresprojekt, ein Buch – und die Erkenntnis, wie stark sie selbst noch verwoben ist

Inge Buck: „Wir waren Kinder. Und Kinder haben oft die Kraft, an die eigene Unzerstörbarkeit zu glauben“  Foto: Julia Baier

Interview HENNING BLEYL

taz: Frau Buck, mit Ihrem Schreibprojekt „Aus dem Gepäck der Kriegskinder“ haben Sie Erlebnisse reaktiviert, die rund 70 Jahre zurückliegen. Könnten Sie sich vorstellen, auch mit Leuten zu arbeiten, deren Kriegs- und Fluchterfahrungen aktuell sind?

Inge Buck: Wenn man eine solche Schreibwerkstatt zum Beispiel in einem Bremer Übergangswohnheim anbietet, wäre das sicher spannend. Aber allein könnte ich das nicht. Das müsste ja auch mehrsprachig sein.

Vielleicht kann man in so einem Projekt ältere Deutsche und junge neu Angekommene zusammenbringen? Die Erfahrung von Schutz- und Ortlosigkeit ist ja die gleiche. Auch die existentielle Erfahrung, dass die eigenen Eltern der Katastrophe ebenso ausgeliefert sind wie man selbst als Kind.

Ob eine gemischte Gruppe funktionieren würde, weiß ich nicht. Vielleicht müsste man mit getrennten Gruppen beginnen und die dann zusammenführen. Es war ja auch gar nicht so einfach, die alte Generation zum Schreiben zu bewegen. Aber ein Versuch wäre sicher gut.

Sie sollten eigentlich „nur“ eine Schreibwerkstatt koordinieren, in der es um Lyrik gehen sollte. Dann haben Sie selber mitgeschrieben, ein 160-seitiges Buch, durchmischt mit Prosa, ist entstanden. Was war das für eine Dynamik, die sich da entwickelt hat?

Am Anfang war das ein reiner Arbeitsauftrag für mich. Ich dachte: Das sind jetzt ein, zwei Wochenenden, und dann mache ich wieder meine eigenen Projekte. Aber dann bin ich in eine Zeit eingetaucht, von der ich gedachte hatte, dass sie mich gar nicht mehr so berührt.

Ihre eigene Kindheit.

Genau. Plötzlich hatte ich zum Beispiel die Fibel wieder vor Augen, mit der ich Schreiben lernte. Über dem „ei“ war ein Bild von Adolf Hitler mit einem Mädchen auf dem Arm, das samt Blumenstrauß. Das „ei“ wurde anhand des Wortes „Heil“ vermittelt. Auf einmal war ich wieder hineingezogen in diese Zeit.

Was wäre anders bei so einem Schreibworkshop, wenn die Kursleiterin zum Beispiel zum Jahrgang 1980 gehören würde?

Dann könnte ihr nicht das passieren, was bei mir passiert ist. Für die Schaffung eines Vertrauensraumes war das aber gut: Ich konnte wiedererkennen, spiegeln, Assoziationsketten entstanden leichter. Mit jemandem aus einer anderen Generation wären die Texte vielleicht deskriptiver geworden.

Komm, Mama, sagte die Tochter.Ich komme ja, sagte die MutterSie liefen los,aber der Lärm der Sirenenschien die Mutter zu lähmen.Komm, sagte die Tochter,und zerrte an Mutters Hand.Sie waren zu langsamund als sie am Bunker ankamen,war die Tür verschlossen.Die Mutter sank zu Bodenund lehnte den Rücken an die Bunkerwand.Hier sind wir sicher, sagte sie.Die Tochter spürte die Lüge,und die Angst der Mutterwird die Angst der Tochterund wird es bleibenüber den Krieg hinaus,vielleicht für immer.Matthias Groll

Aus: Inge Buck (Hrsg.): Aus dem Gepäck der Kriegskinder, Edition Falkenberg 2015

Sie wollten die Textform anfangs sogar ganz auf Lyrik eingrenzen. Warum?

Um Geschwätzigkeit zu vermeiden. Irgendwann wiederholen sich ja die Schilderungen. Da ist Lyrik ein Mittel, wirklich etwas Individuelles hervorzubringen. Lyrik hat zudem die große Qualität, dass nicht immer alles gesagt werden muss, dass sie im Nachschwingen funktioniert. Allerdings konnten wir die Konzentration auf die Gedichtform nicht ganz durchhalten.

Eine Schreibwerkstatt ist ein selbstreflexiver Prozess, auch ein hoffentlich hilfreicher Gruppenprozess. Welche Rolle spielt das Nach-Außen-Geben dieser individuellen Inhalte, das Veröffentlichen?

Wir haben eine stille, verborgenen und auch schwierige Arbeit gemacht, die letztlich ein ganzes Jahr gefüllt hat, und die andere Dimension ist eben das Licht der Öffentlichkeit – das allerdings auch mit sich bringt, dass die eigenen Dinge kritisierbar werden. Und das kann bei derart persönlichen Texten natürlich schwierig werden. Es ist ein Risiko.

Ihre AutorInnen gehören zu den Geburtsjahrgängen zwischen 1920 und 1940. Die Adjektive dieser Generation sind „ausgebombt“, „kinderlandverschickt“, „zwangseinquartiert“. In den Texten spielt Krieg aber auch als „normaler“ Alltag eine große Rolle, in dem gespielt und gezankt wird. Gleich im ersten Text heißt es: „Als kleines Kind, 1940 geboren, fehlte mir nichts (…), was nach Bombenangriffen vom Himmel fiel, hielt ich für Lametta.“

Wir waren Kinder. Und Kinder haben oft die Kraft, an die eigene Unzerstörbarkeit zu glauben.

Aber es blieb Ihnen ja nicht erspart, zu sehen, wie andere Kinder starben.

Inge Buck

79, lehrte Kulturwissenschaften an der Hochschule Bremen und ist Bremens bekannteste Lyrikerin

Sicher. Das war ein Nebeneinander. Ich kam eines Morgens in die Schule, und da wurde uns gesagt, die Lehrerin ist tot. Sie starb bei einem Bombenangriff. Aber als ich vor dem blumenüberhäuften Grab stand, konnte ich nicht glauben, dass da meine Lehrerin drunter liegen sollte. Man konnte das nicht miteinander verbinden.

In den Beiträgen lässt sich ein Subtext erkennen, der den „Zeitgeist des NS-Regimes und dessen Folgen“ spürbar mache, schreiben Sie im Vorwort. Was meinen Sie damit konkret?

Zum Beispiel die Haltung, nicht wehleidig sein zu wollen. Wir sind davon geprägt, dass man unempfindlich zu sein hat und dass es nicht auf den einzelnen, sondern die Gruppe ankommt. Wir sind, sozusagen, auf eine gewisse Gehorsams-Haltung zugerichtet.

Nun ging es im Schreibprojekt aber gerade auch um die individuellen Angst- und Schmerzerfahrungen. Wie schwierig war es, das Schreiben in Gang zu bringen und zu halten? Sie sagen, es handele sich um Texte, die die AutorInnen „eigentlich gar nicht schreiben wollten“.

Mitunter war das durchaus eine anstrengende und zähe Arbeit. Später mussten die Texte dann ja auch gestrafft und richtig durchgeknetet werden. Aber es hat sich gelohnt. Es gab Leute, die ausgestiegen sind, weil sie zu angefasst waren und das nicht aushaltbar fanden – und welche, die später wiedergekommen sind. Das muss man alles akzeptieren und integrieren.

Buchpremiere: Dienstag, 13. Oktober, 20 Uhr, Villa Ichon. Mit einer Einführung von Gert Sautermeister