Immer antizyklisch investieren, Freunde!
: Gier, Selbstekel und Liebe

Millionär

von Ingo Arzt

Als kleiner Junge freute ich mich riesig, als mein Vater ein Gebiss bekam. Schon als Säugling hatte ich gelächelt, wenn das Gold im Mund meines Erzeugers aufblitze. Nun, vor dem Besuch beim Dentisten, war Vater zwar hochgradig depressiv, doch mir war das gleich: Nach langem Quängeln hatte die Familie versprochen, mir die Goldplomben nach der Extraktion zu vermachen.

Die Erfahrung war existenzialistisch: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass an dem Gold noch Zähne dranhängen. Als mir der mürrische Vater ein Tütchen mit dem ersehnten Mundgold überreichte, überkam mich erstmals jener faszinierende Schauer aus Gier und Selbstekel, dem alles Streben nach Reichtum innewohnt.

Ich trottete totenbleich in mein Zimmer. Später warf ich die Zähne in einen Kanister mit Brennspiritus, den Mutter im Besenschrank hortete, weil sie der Meinung war, dass ein Kanister Brennspiritus im Fall eines Atomkrieges unser Überleben sichern würde.

Vor ein paar Monaten rechnete ich aufgrund der allgemeinen Krisenhaftigkeit mit einem baldigen Kollaps des Weltwirtschaftssystems. Wie davon profitieren? Die Leute würden weltweit nur noch in Gold und Wohnungen, bevorzugt in Berlin-Mitte, investieren. Das machen die Reichen in Krisen immer so, statt standesgemäß aus dem Fenster zu springen.

Also Gold. Das war charttechnisch damals zwar nicht zu empfehlen, aber: immer antizyklisch investieren, Freunde. Wenn alle Milch kaufen, kauf Wurst. Wenn Finanzexperten raten, jetzt noch vom Aktienboom zu profitieren, kauf Ziegelsteine, eine Frittenbude, einen Container Perücken, Würste, nur keine Aktien mehr. Gold ist übrigens die Wurst der Märkte, wegen der Haptik. Man kann sich Gold nach dem Kauf anliefern lassen und anfassen wie eine Wurst, was bei anderen Finanzprodukten nicht der Fall ist.

Gold ist zudem unnütz. Es hat keinerlei praktischen Nutzen. Sein Wert ist eine zivilisatorische Imagination unseres Verstandes, so wie die Liebe nur im Herzen brennt. Wobei Liebe evolutionär tiefer geht und auch im Tierreich verankert ist. Ich glaube, dass sich auch Kühe ineinander verlieben.

Kürzlich wollte ich nachdenken. Ich nahm einen Campingstuhl und setze mich an den Rand einer Weide. Eine Kuh kam und starrte mich an, eine Stunde lang. Das war lästig. Ich will damit nicht andeuten, dass sich die Kuh in mich verliebt hat. Aber es war ihr stoisches Kauen, das in mir die Gewissheit wachsen ließ: Das Weltfinanzsystem ist wie diese Kuh. Es bricht nicht zusammen.

Womit meine Anlagestrategie – Anstieg des Goldkurses um 300 Prozent in drei Monaten – nicht mehr zu halten war. Mittlerweile ist der Goldpreis deutlich gesunken. Ich mache Verluste. Vom heutigen Standpunkt aus muss ich sagen: Ich hätte in Kokain investieren sollen. Kokain ist charttechnisch erstaunlich stabil.

Das Gold werde ich trotzdem behalten; ich hoffe auf den Untergang. Und erst dann, wenn Gold und Liebe die letzten Währungen sein werden, erst dann werde ich Vaters Goldzähne aus dem Brennspirituskanister fischen.

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