Wollen keine Aussteiger, sondern Umsteiger sein: die künftigen BewohnerInnen des Wohnprojekts im 400-Seelen-Dorf St. Dionys   Foto: Katharina Schipkowski

Die Zukunft des Dorfes

Gemeinschaft Im beschaulichen St. Dionys baut eine Gruppe für ein neues Wohnprojekt ein altes Bauernhaus aus. BewohnerInnen des kleinen Dorfes warten schon sehnlich auf die neue Gesellschaft

Von Katharina Schipkowski

Der Dorfkern, in dem sich das Wohnprojekt ansiedeln will, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Zu sehen ist dort eigentlich nichts, außer einer Straßenkurve. An deren Rand wuchert Gebüsch, dahinter Wald. Bella, die aus Berlin kommt, macht eine ausladende Handbewegung. „Das hier ist schon der Dorfkern“, erklärt sie –und räumt ein: „Na ja, hier gibt es eben nicht viel. Aber das wird sich ja bald ändern.“

Bald – das heißt, wenn das ehemalige Bauernhaus, das neben der Kurve steht, fertig ausgebaut ist. Bezugsfertig wird es in einem Jahr sein, glaubt Bella. Dann will sie mit einigen anderen hier ein Wohnprojekt eröffnen, im winzigen Örtchen St. Dionys, 12 Kilometer nördlich von Lüneburg.

Aus acht Leuten besteht ihre Projektgemeinschaft derzeit: Drei Paare und zwei Einzelpersonen im Alter von 49 bis 62 Jahren. Zehn Wohnungen sollen in dem alten Bauernhaus entstehen, fünf davon haben sie schon finanziert und geplant, fünf weitere sind noch zu vergeben. Die Baugemeinschaft St. Dionys sucht immer noch MitstreiterInnen.

Das Bauernhaus komplett umzubauen, ist gar nicht so einfach. Das Haus stammt aus dem Jahr 1913 und steht unter Denkmalschutz. „Nicht weil es so schön ist“, sagt Bella. Obwohl es das ja schon ist: Komplett aus Backstein ist die Fassade, mit dunklen Holzbalken dazwischen. Alles ist riesig groß: das Scheunentor, die Fenster, die Wände, das Ziegeldach. Hinter dem Haus liegt ein Garten, dahinter Äcker, sonst weit und breit nichts. „Es ist ein typisches Niedersachsenhaus“, erklärt Bella. Das heißt, die Scheune befindet sich direkt am Haus. Auch dort könnte man Wohnungen einbauen, oder was anderes: „Ein Kunstatelier“, schwebt der Berlinerin vor – „aber erst mal machen wir das Haus fertig. Kostet ja auch alles Geld.“ Und zwar gar nicht so wenig: 240.000 Euro werden pro Wohnung fällig, die entsteht.

In St. Dionys, dem kleinen Dorf am Rande der Elbmarsch, wohnen nur 400 Leute. Es gibt keinen Supermarkt, keinen Bäcker, keinen Kiosk, keinen Briefkasten. Nur eine Kirche, die Namensgeberin für den Ort. Ein paar Kilometer entfernt liege ein Golfplatz, aber der werde eher von Ortsfremden genutzt, sagt Bella.

Warum sollte man gerade hier ein Wohnprojekt aufbauen? „Ich kann da nur für mich sprechen“, sagt die Berlinerin. „Ich bin ein Stadtmensch. Ich wohne mitten in Kreuzberg, aber frag mich mal, wie oft ich ins Theater oder in die Oper gehe. Wenn ich schon Aufwand betreibe, um irgendwo hinzukommen, dann fahre ich aufs Land.“ Auch Alex, Pia, Peter und die anderen MitbewohnerInnen in spe wollten aufs Land ziehen. An den See, in den Wald. Die meisten von ihnen arbeiten selbstständig. An Geld mangelt es ihnen nicht, und auch die anderen Verpflichtungen sind überschaubar: Die Kinder, soweit vorhanden, sind längst aus dem Haus. Verwirklichen sie jetzt, frei von Zukunftsängsten und ungebunden, ihren Lebenstraum?

„Nee“, sagt Alex, die zurzeit noch in Hamburg wohnt. „Das haben die meisten von uns schon längst gemacht.“ Sie hat auch schon mal mit Erwachsenen und Kindern auf dem Land gewohnt. Seit 25 Jahren wohnt sie nun schon in Hamburg und will jetzt wieder aufs Land. In Wohnprojekten haben die meisten von ihnen auch schon mal gelebt.

„Es geht darum, mit anderen zusammen etwas zu machen. Ein Projekt“, sagt Bernd. Im Erdgeschoss des Bauernhauses will die Gruppe ein Kulturcafé eröffnen. So planen sie, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach zu verbinden und dadurch mehr Gemeinschaft zu erzeugen, als durch das bloße Zusammenwohnen. Im Kulturcafé soll sich jeder ohne Zwang beteiligen können, ohne großen Aufwand, nichts besonders Schickes.

Man könne immer ein, zwei Blechkuchen da haben, sagt Bernd, Pflaumenkuchen, Bienenstich, frisch gebacken, dazu Kaffee und andere Getränke. Ganz simpel. Aber genau so etwas ist es, was in St. Dionys fehlt. Weil es hier nichts gibt, kommt auch niemand vorbei.

Bella, künftige Bewohnerin des Wohnprojekts St. Dionys

Niemand schlendert durch den Ort, wohin auch? Neulich hat sich Bella mit einer alten Dame unterhalten, die ein paar Häuser weiter lebt. Die war sehr glücklich über Bellas Gesellschaft – sie hatte seit vier Tagen mit niemandem gesprochen. Höchstens, wenn jemand Besuch bekommt, fährt mal ein Auto von der Kurve ab, auf die kleine Dorfstraße, die zusammen mit der Kurve die Ecke bildet, in der so etwas wie ein Dorfplatz entstehen könnte, wenn das Wohnprojekt fertig ist und für Belebung sorgt. Ansonsten donnern die LKW durch die Kurve, sodass die Scheiben in den morschen Fensterrahmen der Nachbarhäuser wackeln. Tempo 50 ist erlaubt. Tempo 30 wünscht sich die Baugemeinschaft in Zukunft. Vielleicht könne man da was machen, hatte der Bürgermeister schon angedeutet.

Für das kleine Dorf St. Dionys ist das Wohnprojekt das Beste, was ihm passieren kann. Es scheint, als hätten die BewohnerInnen lange auf etwas gewartet. Auf frischen Wind. Oder einfach auf einen Ort, wo sie sich treffen können. Im vergangenen März haben Bella und die anderen das Kulturcafé schon einmal geöffnet, obwohl die Räume noch gar nicht fertig waren. Sie hatten das Dorf eingeladen, um sich vorzustellen. „Es war rappelvoll“, erzählt Bella. Über 40 Leute waren gekommen, das sind mehr als zehn Prozent der DorfbewohnerInnen. „Früher gab es auch schon mal eine Wirtschaft in dem alten Bauernhaus“, erzählt Peter, „und auch mal ein griechisches Restaurant.“ Aber seit vier Jahren steht der alte Gastraum leer. „Zurückzukommen war für die Leute wie nach Hause kommen.“

Im Sommer war die Baugruppe acht Wochen da, hat im Haus gewerkelt und geputzt. Da haben sie öfters spontan eingeladen, haben einfach einen Aufsteller an die Straße gestellt und immer kamen Leute aus dem Dorf. Die BewohnerInnen haben eine Feuerschale für das Hausprojekt gekauft und sie haben am Lagerfeuer gesessen, jemand kam mit selbst gebackenem Brot vorbei, jemand anders mit einem kleinen Anhänger, befüllt mit Eiskübeln und Sekt. Wir waren sprachlos und gerührt“, sagt Bella, „so was hätten wir uns nicht träumen lassen.“

Seitdem kommen manchmal Leute vorbei und fragen, wann sie fertig seien. „Die warten auf uns wie auf den Weihnachtsmann“, sagt Bella. Anstrengend sei er schon, der Umbau des denkmalgeschützten Hauses. Aber dass sich die DorfbewohnerInnen auf sie freuen, gibt Kraft.