Ein Edelweiß aus Kirgisien

Die ehemalige Sowjetrepublik wird wegen ihrer imposanten Bergwelt auch „die Schweiz Zentralasiens“ genannt. Eine Zugreise in das Land der zweiten Zeitenwende mit seinen Jurten und Hirten, Marco-Polo-Schafen und Gebirgsseen

VON GÜNTER ERMLICH

„Karakol – Song-Kul-See – Moskau – Prag – Nürnberg“ steht auf dem Zuglaufschild, das Lydia und Natascha, unsere beiden Reiseleiterinnen, immer wieder stolz unseren Gastgebern in Kirgisien zeigen. Natürlich wäre es weitaus schneller und bequemer gewesen, von Frankfurt oder Hannover in die kirgisische Hauptstadt Bischkek zu fliegen, aber wir sind mit BUND-Reisen unterwegs, einem ökologischen Veranstalter, der dem Flugwahn trotzt und nur erdgebundene Touren per Bus oder Bahn anbietet.

Also haben wir uns Kirgisien, dem zentralasiatischen Land an der Seidenstraße, behutsam angenähert, sind mit der russischen und kasachischen Eisenbahn tage- und nächtelang, tausende von Kilometern, gefahren und haben nur das letzte Stückchen im Bus zurückgelegt. Im Moskauer Bahnhof Kasanskaja haben wir unseren kasachischen „Komfortzug“ bestiegen. Nach anfänglichem Naserümpfen werden später auch Rainer (62, Exsparkassenvorstand) und sein Kumpel Günter (62, Exvolksschulrektor) ihr Zuhause für 72 Stunden und 3.587 Kilometer schätzen lernen: das superplüschige Abteil, die geruchsintensive Toilette und den hochbetagten Samowar im Gang. Und das sättigende Frühstück im Speisewagen: Hirsebrei, Pommes mit Paprikastreifen, Weißbrot, Käse und Pferdewurst.

Längst haben wir Südrussland, die drei Kilometer lange Brücke über die Wolga bei Saratow hinter uns, auch den Ural haben wir tief in der Nacht überschritten. Der sterbende Aralsee liegt zurückgezogen und das Kosmodrom Baikonur versteckt sich irgendwo in der kasachischen Grassteppe. Das Geratter der Schwellen gibt den schläfrig machenden Takt vor. Irgendwann streikt die Klimaanlage, der Waggon heizt sich zur schweißtreibenden Sauna mit gefühlten 45 Grad auf. Einige schwänzen die nachmittägliche Russischlektion von Natascha. Zu heiß.

An der kasachisch-kirgisischen Grenze dauert die Überprüfung unserer Pässe. Und dauert. 15 deutsche Touristen, die kurz vor Mitternacht hier auftauchen, sind nicht gerade alltäglich. Wir sind müde. Und müssen noch den Reisebus, der dann nicht wieder anspringen will, buchstäblich nach Kirgisien reinschieben. Sechs Tage sind vorbei, endlich sind wir am Ziel. Von der Hauptstadt Bischkek bis zur Song-Kul-Hochebene hat der Kleinbus unserer Reisegruppe sieben, acht Stunden, gebraucht. Jetzt sind wir mitten in Kirgisien, mitten in der Weltabgeschiedenheit, im touristischen Jurtencamp. Einzeln oder in kleinen Siedlungen ducken sich vom Wetter gegerbte Rundzelte auf den jailoos, Weideplätzen in den Hochtälern. Von Juni bis September übersommern hier die Hirtenfamilien mit ihren Viehherden – Pferden und Kühen, Schafen und Ziegen und den seltenen Yaks. Nomaden auf Zeit.

Um fünf Uhr singen die Lerchen. Draußen ist es bitterkalt, Raureif liegt über der Steppe, der Wind pfeift um die hölzernen Toilettenkabinen. Katzenwäsche im eiskalten Gebirgsbach. Noch liegen die umliegenden Fünftausender im grauen Morgendämmer. Als die Sonne dann hinter den Bergen emporsteigt, zeichnen sich im zartrosa Licht die Konturen der Umgebung ab: eine Kette schneebedeckter Berggipfel, davor der aquamarinblaue Song-Kul-See, Grasland, auf dem Pferde weiden, und ein paar pilzförmige Filzjurten, die im Halbkreis stehen. Was für eine Weite, was für eine Stille.

Mit Nargisa, der jungen Dolmetscherin, machen wir uns auf die Wanderung. Alle paar hundert Meter stehen Jurten im Tal. Eine Frau melkt Stuten, ihre Töchter halten die Fohlen fest. Wenig später kommt uns ein Mädchen mit schwarzem Zopf in pinkfarbenem Kleid entgegen, gießt aus einem Henkeleimer weiße Brühe in eine Schale und reicht uns diese freundlich nickend. Es ist kymyz. Die gegorene Stutenmilch schmeckt halb rauchig, halb säuerlich. „A gscheits Weißbier wär mir liaba“, schüttelt sich der Oberpfälzer Günter.

Wir laufen über von Blumenteppichen bedeckte Berghänge. Es gibt Edelweiß in rauen Mengen, so viele auf einem Fleck, dass man schon mal eins zertritt oder in die Hemdtasche steckt. Die Luft in gut 3.000 Meter Höhe ist verdammt dünn, erbarmungslos brennt jetzt die Steppensonne. Abends im Camp kocht Gulbara, eine kleine, rundliche Frau, über der Feuerstelle im Freien dymdama, ein Eintopfgericht aus Kartoffeln, Kohl, Möhren, Zwiebeln, Paprika und Hammelfleisch. Mit ihrem Mann und ihrer Schwester betreibt sie im Sommer das Camp, während ihre Kinder bei Verwandten in der Stadt bleiben. Eigentlich sei sie ja Ärztin, arbeite als Epidemiologin im Krankenhaus. Dass sie im Camp mehr verdienen kann als im Krankenhaus, sagt sie nicht. Sie sagt: „Die Arbeit mit den Touristen macht mir Spaß, dabei kann ich mich erholen.“

Wir hocken auf Filzteppichen im Schneidersitz oder knien vor dem niedrigen Tisch. Nach dem Essen heizt uns das Folkloretrio ein, das von weit her angereist ist. Die Männer tragen den traditionellen Filzhut kalpak, einer spielt die zweisaitige Laute komuz, und einer erzählt Geschichten aus dem Manas-Epos, das mit über zwei Millionen Versen das längste Gedicht der Welt ist. Unermüdlich kreist die Wodkaflasche.

Was haben wir vor der Reise von dem kleinen Bergland gewusst? So gut wie nichts, hätte nicht im März die „Tulpenrevolution“ stattgefunden, als oppositionelle Demonstranten das Regierungsgebäude stürmten und den langjährigen Präsidenten Akajew aus dem Amt vertrieben. Bei den Präsidentschaftswahlen im Juli wurde der Interimsstaatschef Bakijew mit dem sowjetischen Traumergebnis von 88,65 Prozent gewählt. Seit 1991 ist die ehemalige Sowjetrepublik ein unabhängiger Staat, Russisch ist nach wie vor Lingua franca. Kirgisien hat 5 Millionen Einwohner, 75 Prozent sind sunnitische Muslime, zwei Drittel der Bevölkerung sind Kirgisen, die zu den ältesten Turkvölkern zählen, aber es gibt rund 80 weitere Ethnien, viele Russen und Usbeken, aber auch Koreaner, Uiguren, Dunganen (chinesische Muslime) und noch einige wenige Russlanddeutsche, die einst von Stalin hierher deportiert wurden. Vom neuen Präsidenten erhofft sich das Volk Ruhe und Stabilität, weniger Korruption und wirtschaftlichen Aufschwung.

Der Weg in den Nordosten des Landes führt entlang der alten Seidenstraße durch die Schlucht des Flusses Chui. Immer wieder begegnen wir Eselsgespannen, auf denen ganze Familien hocken, und Traktoren, die Wagen mit abenteuerlich hoch gestapeltem Heu hinter sich herziehen. Und wir begegnen auffällig vielen deutschen Autos, Gebrauchtwagen, die legal oder illegal ihren Weg nach Kirgisien gefunden haben. An den Issyk-Kul, den nach dem Titicacasee größten Gebirgssee der Welt, hätten wir zu Sowjetzeiten nicht fahren dürfen. Damals war die Region ein exklusives Sommer- und Badeziel für die Nomenklatura und wegen der Höhenlage bevorzugte Trainingszone für Athleten und Astronauten. Heute ist der „heiße See“, der sich aus warmen Quellen speist, die erste touristische Adresse Kirgisiens: wegen des kristallklaren Wassers und des milden Heilklimas, der feinen Sandstrände und der frischen Seebrise, wegen des Dufts der Nadelbäume und der 280 Sonnentage im Jahr. Doch das einzige große Hotel, das Aurora, ein Kasten in reinstem Sowjetstil, atmet noch die Geschichte von gestern: das nüchterne Mobiliar, der übergroße Speisesaal, das lieblose Essen, der bescheidene Service.

Wegen seiner ökologisch intakten Hochgebirgslandschaften wurde das Gebiet um den Issyk-Kul zum Biosphärenreservat erklärt. Das neue Ökozentrum, mit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit aufgebaut, sammelt Umweltdaten und will die Öffentlichkeit über das Reservat informieren. Der Leiter schwärmt von der Artenvielfalt, den über 30.000 Steinböcken, 10.000 Marco-Polo-Schafen, den seltenen Tierarten wie dem Tien-Schan-Reh, dem Turkestan-Fuchs und den bedrohten Schneeleoparden, von dem es nur noch einige hundert Exemplare gibt; zu Sowjetzeiten waren es zehnmal so viele. Fast machtlos seien die 34 Ranger gegen die Wilderer, die die scheue Großkatze wegen ihres prächtigen Fells jagen. Für den Preis eines Fells muss ein Kirgise mehrere Jahre arbeiten.

Kirgisien gehört mit seinem Bruttoinlandsprodukt von 425 US-Dollar pro Kopf zu den ärmsten Entwicklungsländern der Welt. Nennenswerte Industrie und Bodenschätze gibt es nicht. Neben der Landwirtschaft und der Goldmine Kumtor, einem kanadisch-kirgisischen Joint Venture, bietet nur der Tourismus eine Chance auf Einkommen und Entwicklung. Doch Kirgisien ist touristisch noch wenig erschlossen. Zwar gibt es inzwischen einige Kleinveranstalter wie Novinomad, die Wander- und Trekkingtouren, Angel- und Jagdausflüge, Ausritte zu Pferd und Rundreisen im Kleinbus organisieren. Doch vor allem an Unterkünften westlichen Standards und an touristischen Informationsbüros mangelt es noch. Karakol, die drittgrößte Stadt des Landes, ist eine Ansammlung einstöckiger Häuser, der Basar ist das Zentrum. Unsere Reisegruppe wird auf drei Gastfamilien verteilt. Wir landen bei Dschamilja. Sie heißt wie die Heldin aus der gleichnamigen Erzählung des Nationaldichters Tschingis Aitmatov. Am Hauseingang stehen Filzlatschen bereit, es gibt zwei propere Bäder und eine Toilette und geräumige Zimmer, die die Familie für eine Nacht geräumt hat, ein Wohnzimmer mit zwei plüschigen Ausziehsofas, ein Schlafzimmer mit Sternenhimmel. Am nächsten Morgen frühstücken wir in der Jurte, die im Garten zwischen Kohlköpfen und roten Rosen kurz zuvor aufgestellt wurde.

Auf Initiative der Schweizer Entwicklungshilfeorganisation Helvetas wurde vor zehn Jahren ein Netzwerk kleiner touristischer Anbieter gegründet, zu dem auch Dschamiljas Bed & Breakfast gehört. Ihr Heim hat drei Edelweiß, die höchste Qualitätskategorie bei Familienunterkünften. Sie habe als Lehrerin für Geschichte und kirgisische Sprache gearbeitet, erzählt die 54- Jährige in ordentlichem Englisch, „aber nach dem Kollaps des Sowjetsystems konnte ich von dem geringen Lehrergehalt nicht mehr leben“. Heute bekommt sie 10 bis 15 Euro pro Gast. „Früher durfte man ja kein Business haben“, sagt Dschamilja, die selbstständige Unternehmerin, „heute habe ich die Freiheit, ein großes Haus zu bauen und Touristen zu empfangen.“

Wir haben Dshamiljas Sätze noch im Kopf, als wir von ihrem Haus aus ein Stück zu Fuß gehen. Im Hintergrund das großartige Panorama verschneiter Berggipfel, im Vordergrund die Kulisse des Zerfalls. Überall marode Mauern, gefährlich schräge Strommasten, Brachen mit herumliegenden Schrottteilen, ein zuwuchernder Autofriedhof, das Betonskelett einer geschlossenen Fabrik. Stumm grüßend, zieht ein Greis seine Kuh hinter sich her. Etwas später bittet uns ein Mann um eine Zigarette. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“ oder „nach dem Kollaps des Sowjetsystems“, so fangen viele Sätze in Kirgisien an. Aber viele beginnen jetzt auch mit den Worten „nach der Revolution im März“. Sie meinen eine zweite Zeitenwende, aus ihnen spricht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.