Warum wir alle "Charlie“ wurden

Gesellschaften erinnern sich an Ereignisse mit Hilfe griffiger Bilder und prägnanter Sätze – so eine Ikone ist „Je suis Charlie“

Ein Jahr nach dem Anschlag auf seine Redaktionsräume steht bereits der Titel der Satire­zeitschrift Charlie Hebdo für einen bis dahin beispiellosen Angriff auf ein journalistisches Haus und seine MitarbeiterInnen. Seine Nennung löst in vielen Menschen Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen aus.

Jeder hat nach seinen Erfahrungen ganz persönliche Erinnerungen an diesen Tag und dieses Ereignis, doch darüber hinaus gibt es auch Bilder, Begriffe und Erzählungen, die sich ins Gedächtnis einer nationalen Gesellschaft oder sogar über Landesgrenzen hinaus einprägen. Warum das so ist und welche Auswirkungen Ereignisse wie der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo auf unser Gedächtnis haben, beschäftigt die Erinnerungsforschung, die WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen zusammenbringt.

Einer ihrer Begründer ist der Soziologe Maurice Halbwachs, der in den zwanziger Jahren den Begriff des kollektiven Gedächtnisses prägte. Als dessen zentrale Funktion machte er die Identitätsbildung aus. Erinnert wird demzufolge, was dem Selbstbild und den Bedürfnissen einer Gruppe entspricht. Der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo traf die westliche Gesellschaft an einem entscheidenden Punkt ihres Selbstbilds: der Pressefreiheit. Jedoch: Kollektives Gedächtnis ist ohne Medien nicht denkbar. Erst sie sorgen dafür, dass persönliche Erinnerungen wie die von Zeitzeugen verbreitet und wiedergegeben werden und damit kollektive Bedeutung erlangen.

Terrorangriffe wie der auf die Redaktion von Charlie Hebdo sind heute globale Medienereignisse. Als Initial-Event nennt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll hierbei die Terroranschläge vom 11. September 2001. Nach einem solchen Ereignis sucht sich eine Gesellschaft relativ schnell Bilder, Begriffe und Erzählungen, die sie mit dem Ereignis verbindet. „Das erste Jahr ist dabei entscheidend“, sagt Erll. Bei den Angriffen am 11. September ist das Datum selbst zur festen Formel geworden, die rauchenden Türme des World Trade Centers wurden zur Ikone.

Bei jüngeren islamistischen Terroranschlägen kristallisieren sich kaum noch eindeutige Bilder heraus, anhand derer sich Menschen an das Ereignis erinnern, meint der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz. „Vielleicht geben diese Ereignisse weniger Bilder her“, vermutet er.

Andererseits könne auch der Medienwandel seinen Anteil daran haben. Durch die massive Verbreitung des Internets sei die Situation Ruchatz zufolge unübersichtlicher geworden. Es ströme eine derartige Flut an Bildern auf die Menschen ein, dass schwierig zu sagen sei, welche von ihnen erhalten bleiben. „Dadurch rückt der Austausch der Menschen mehr in den Mittelpunkt“, schlussfolgert der Forscher. Über diesen Austausch wurde die Solidaritätsbekundung „Je suis Charlie“ zur Ikone des Attentats am 7. Januar 2015. Der Tweet des Designers und Journalisten Joa­chim Roncin mit dem weißen Schriftzug auf schwarzem Grund wurde tausendfach geteilt, verwendet und abgewandelt – weit über die Landesgrenzen Frankreichs hinaus.

Ob die Solidarität und die Erinnerung an diesen Tag international ihren Platz im kollektiven Gedächtnis behalten werden, lässt sich laut Ruchatz erst in ein paar Jahren sagen. Es sei jedoch wahrscheinlich, weil an dem Tag der Journalismus selbst getroffen wurde und die Diskussion um Pressefreiheit und mögliche Grenzen der Satire bestehen bleiben. Ronny Müller