„Viele junge Spanier sind unzufrieden mit den Arbeitsverhältnissen, in denen sie hier landen“, deshalb engagieren sich die Aktivisten Rafael Aliaga und Naiara Gómez

Ausgewandert, ausgebeutet, aufständisch

MIGRATION Immer mehr junge Leute aus anderen EU-Staaten, besonders den Krisenländern Südeuropas, ziehen nach Berlin. Sie hoffen auf eine neue Perspektive – und finden sich oft in prekären Arbeitsverhältnissen wieder. Immer öfter aber wehren sie sich dagegen

Text Malene Gürgen
Foto Karsten Thielker

Im italienischen Restaurant Barist, direkt unter den S-Bahn-Brücken am Hackeschen Markt, könnte es am Samstagabend ungemütlich werden: Die GewerkschaftsaktivistInnen von der Freien Arbeiter und ArbeiterInnen Union (FAU) haben ihren Besuch angekündigt, sie wollen vor dem Restaurant eine Protestkundgebung abhalten. Es geht um die Löhne für Alessandro (Name geändert), einem jungen Italiener, der im Barist als Kellner arbeitete. Über 1.000 Euro habe das Restaurant ihm nicht wie vereinbart ausgezahlt, vor allem Nachtzuschläge und Urlaubsentgelte seien nicht gezahlt worden, sagt Alessandro. Nachdem das Unternehmen auf Briefe und Gesprächsaufforderungen nicht reagierte, könnte die Androhung einer Kundgebung vor den speisenden Gästen nun Erfolg haben: Zum ersten Mal in dem seit Monaten andauernden Konflikt habe das Restaurant nun signalisiert, die ausstehenden Beträge möglicherweise doch zahlen zu wollen, sagt FAU-Sprecherin Tinet Ergazina.

Ein Restaurant, dass seine MitarbeiterInnen nicht vernünftig bezahlt – kein Einzelfall in Berlin und auch kein Phänomen, von dem nur MigrantInnen betroffen wären. Aber sie haben oft mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, sagt der FAU-Aktivist Markus Weise: „Gerade Kolleginnen und Kollegen, die sich erst seit kurzer Zeit in Deutschland befinden und von denen die Arbeitgeber annehmen, dass sie die geltenden Arbeitsrechte nicht kennen, werden oft schamlos ausgebeutet.“ Vor zwei Jahren hat die FAU deswegen eine eigene „Foreigners’ Section“ gegründet, die sich speziell um die Belange nicht-deutschsprachiger ArbeiterInnen kümmert.

Die kleine, linksradikale FAU ist damit weiter als die großen Gewerkschaften – dort gibt es bisher kaum eigene Programme für MigrantInnen. Eine Ausnahme ist das beim DGB angesiedelte Projekt Faire Mobilität, das insbesondere WanderarbeiterInnen aus Ost- und Südosteuropa berät. Ein Angebot, nach dem offenbar eine große Nachfrage besteht: „Wir können uns vor Anfragen kaum retten“, sagt Sylwia Timm, die in der Berliner Beratungsstelle arbeitet. Gleichzeitig gebe es aber eine ganze Reihe von Schwierigkeiten: „Das Angebot der Gewerkschaften, dass für gerichtlichen Beistand eine Mitgliedsdauer von mindestens drei Monaten verlangt, geht an der Realität vieler Arbeitsmigranten vorbei“, sagt Timm. Außerdem gebe es in den Gewerkschaften immer noch zu wenig fremdsprachige Mitarbeiter, die sich um die Anfragen der MigrantInnen kümmern könnten.

Das Problem, sagt Naiara Gómez, fange aber oft noch früher an – nämlich damit, überhaupt den Kontakt zwischen migrantischen Arbeitskräften und den Gewerkschaften herzustellen. Die 25-jährige Chemieingenieurin sitzt in einem Café am Kottbusser Tor und schaut nach draußen in den Schneematsch, gerade ist sie von einem Besuch bei ihrer Familie in Barcelona wiedergekommen. Vor zwei Jahren ging sie nach Berlin, als Erasmus-Studentin für ein Semester – und blieb, nachdem sie einen Job an der Uni gefunden hatte. „Ich habe viele spanische Bekannte, die das so gemacht haben: Für ein Auslandssemester nach Deutschland gehen und hoffen, dass man hier einen Job findet.“ Die Jugendarbeitslosenquote liegt in Deutschland bei 7 in Spanien bei 47,5 Prozent.

3,46 Millionen Menschen leben in Berlin, davon haben etwa 550.000 nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. 40 Prozent dieser Menschen kommen aus dem EU-Ausland, weitere 32 Prozent aus anderen europäischen Ländern. Die meisten ZuwanderInnen nach Berlin kommen aus Polen, Italien und Spanien.

Besonders die Migration aus den südeuropäischen EU-Ländern ist in den letzten Jahren stark angestiegen: Die Zahl der nach Berlin ziehenden ItalienerInnen und SpanierInnen hat sich zwischen 2010 und 2014 jeweils mehr als verdoppelt. Zahlen für die darauffolgenden Jahre sind noch nicht veröffentlicht, WissenschaftlerInnen gehen aber davon aus, dass dieser Trend anhält. Der Großteil dieser MigrantInnen ist Studien zufolge gut bis hochqualifiziert.

BürgerInnen der Europäischen Union haben uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Einen Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen haben Menschen aus EU-Mitgliedstaaten, die zum ersten Mal nach Deutschland kommen, allerdings nicht. (mgu)

In Barcelona hatte Gómez die Proteste der spanischen 15-M-Bewegung erlebt, den Aufstand der Empörten, die ab Mai 2011 überall im Land Plätze besetzten und Protestcamps errichteten. Auch in Berlin gibt es eine 15-M-Gruppe, dieser schloss sich Gómez nach ihrem Umzug an – und lernte bald, dass ihre eigene Arbeitssituation, mit einem festen Vertrag zu guten Konditionen, eher die Ausnahme als die Regel unter ihren Landsleuten in ihrer Generation ist. „Viele junge Spanierinnen und Spanier sind unzufrieden mit den Arbeitsverhältnissen, in denen sie hier landen“, sagt sie.

Diesen Eindruck bestätigen die Ergebnisse einer Langzeitanalyse zum Phänomen der „neuen Arbeitsmigration“, also der in den letzten Jahren verstärkten Zuwanderung insbesondere aus den krisengebeutelten Ländern Südeuropas. „Neben einer kleineren Gruppe von Migranten, vor allem aus dem IT-Sektor, die hier einfach und schnell gute Arbeit bekommen, gibt es eine große Gruppe, die entweder gar keine Arbeit findet oder ihre Beschäftigung als deutlich unter ihrer Qualifikation empfindet“, sagt Christian Pfeffer-Hoffmann, einer der AutorInnen der Studie, die der Berliner Forschungsverbund Minor im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erstellt und deren Ergebnisse in den nächsten Tagen veröffentlicht werden.

Gleichzeitig, so Pfeffer-Hoffmann, gibt es bei den Migrationsgründen unter jungen SpanierInnen und ItalienerInnen – diese beiden Gruppen wurden im Rahmen der Studie untersucht –, einen deutlichen Wandel: „Während es früher noch öfter darum ging, einfach Auslandserfahrung sammeln oder Berlin kennenlernen zu wollen, steht heute für viele die Arbeitssuche im Vordergrund.“ Dennoch würden sich die jungen MigrantInnen im Vorfeld oft nur wenig über die Arbeitsmarktsituation in Berlin informieren, im Vordergrund stünden bei der Ortswahl eher die niedrigen Lebenshaltungskosten und das, was Pfeffer-Hoffmann „Metropoleneffekt“ nennt – der aufregende Ruf Berlins. „Viele landen hier dann in prekären Arbeitsverhältnissen, die erst mal nur als Übergangslösung gedacht werden, aber dann häufig zu einem Langzeitzustand werden“, sagt Pfeffer-Hoffmann.

„Viele der neuen ArbeitsmigrantInnen bringen eine kritische Perspektive mit, oft geprägt durch die politischen Auseinandersetzungen in ihren Heimatländern“

MigrationsforscherChristian Pfeffer-Hoffmann

Gómez und ihre MitstreiterInnen erkannten, dass es bei diesen Fällen häufig ähnliche Probleme gibt: „Die Betroffenen wissen nur wenig über ihre eigene arbeitsrechtliche Situation und haben auch Schwierigkeiten dabei, sich diese Informationen zu beschaffen, schon wegen der Sprachbarriere“, sagt Gómez. Aus der Gruppe 15 M Berlin und ihrem Umfeld heraus gründete sich 2014 deswegen eine weitere Initiative: Die Grupo de acción syndical, kurz GAS. Sie will MigrantInnen, die Probleme mit ihren Arbeitsverhältnissen haben, untereinander vernetzen und zu gemeinsamem Handeln ermutigen. Und sie will ein Scharnier sein zwischen MigrantInnen und den deutschen Gewerkschaften: „In den Betrieben bleiben die einzelnen Nationalitäten oft unter sich – die Informationen des deutschen Betriebsrats oder der deutschen Gewerkschaftler kommen dadurch bei den Migranten oft gar nicht erst an“, sagt Rafael Aliaga (29), Philosophie-Doktorand aus Madrid, der die GAS mitbegründete.

Die Gruppe hat sich mittlerweile einen Namen gemacht in der spanischen Community, sie bekommen Anfragen aus ganz Deutschland, sagt Aliaga. „Es sind Fälle aus dem Einzelhandel dabei, aus der Logistik oder der Gastronomie“, sagt er. Am meisten Anfragen bekommt die Gruppe aus dem Pflegebereich – der Branche, in der besonders viele SpanierInnen arbeiten, und in der speziell konstruierte Knebelverträge weit verbreitet sind (siehe Interview). Bekommt die GAS eine Anfrage, versucht sie nach einem Gespräch zur Klärung des Falls zunächst, Kontakt mit dem jeweiligen Betriebsrat oder der zuständigen Gewerkschaft aufzunehmen. „Die großen Gewerkschaften haben Kompetenzen, die wir nicht haben, aber sie sind oft nicht so nah dran an den Beschäftigten, besonders an den migrantischen“, sagt Aliaga, und Gómez ergänzt: „Für uns ist eine aktivistische, kämpferische Perspektive in den Auseinandersetzungen wichtig.“

Das wiederum hat sie mit vielen der neuen ArbeitsmigrantInnen gemeinsam: „Viele dieser Leute bringen eine kritische Perspektive mit, oft geprägt durch die politischen Auseinandersetzungen in ihren Heimatländern“, sagt der Migrationsforscher Pfeffer-Hoffmann. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, warum sich so viele junge KrisenmigrantInnen nicht mit ihren prekären Arbeitsverhältnissen hierzulande zufrieden geben wollen – wer schon mal mit Zehntausenden einen Platz besetzt hat, der lässt sich von einer ignoranten Geschäftsführung nicht abschrecken.