Nur ein Nebenwiderspruch?

DEBATTE Seit den Übergriffen an der Reeperbahn in der Silvesternacht häuften sich Berichte über Flüchtlinge, die sexualisierte Gewalt ausüben. Welche Rolle spielt dabei die Herkunft? Ist es eine nötige Aufklärung oder eine fahrlässige Diskriminierung?

Unpolitisch? Die Frauen, die auf der Reeperbahn protestierten, mussten sich einer Befragung unterziehen Foto: Bodo Marks/dpa

Arschloch bleibt Arschloch

Sexualisierte Gewalt ist eine ekelhafte Realität, der Frauen auf St. Pauli, in Köln, Damaskus, Buenos Aires und anderenorts, sicherlich in verschiedenem Maße ausgesetzt sind.

So zu tun, als sei es besonders schlimm, wenn jemand, der sexualisierte Gewalt ausübt, zuvor von einem Land in ein anderes geflüchtet ist, führt aus mehreren Gründen in die falsche Richtung.

Erstens ist es nicht überraschend, dass auch geflüchtete Männer sexualisierte Gewalt ausüben. Das tun schließlich nicht alle Männer, aber potenziell alle Männer, die Frauen als Objekte betrachten. Und die gibt’s eben in allen Schichten aller Länder, in allen Milieus. Unter einer Million Flüchtlingen sind sicher auch ein paar Arschlöcher.

Zweitens verschleiert eine Berichterstattung, die skandalisiert, dass ein Sexualstraftäter gleichzeitig Flüchtling ist, die Tatsache, dass alle Sexualstraftäter widerliche Dreckssäcke sind. Es spielt keine Rolle, was sie sonst noch sind: Väter, Freunde, Nachbarn, Couchkartoffeln oder Geflüchtete. Für die Betroffene macht es meist keinen Unterschied, ob ihr Peiniger Gärtner, Arzt, Syrer oder Norweger ist. Nur wenn es für das Verständnis des Vorgangs eine Relevanz hat, dann muss man den Hintergrund benennen. Aber er kann nicht der eigentliche Skandal sein.

Im Falle eines Flüchtlings muss man sich besonders gut überlegen, ob man ihn erwähnt, weil die Folgen, die es mit sich bringen kann, wenn man den Täter auf seine Nationalität oder den Asylstatus reduziert, verheerend sein können. Wer schreibt: „Somalier küsst Deutsche gegen ihren Willen“ bedient einen rassistischen Diskurs, weil die AutorIn impliziert, es sei schlimm, weil der Täter Somalier ist.

Es kann eine Gratwanderung sein, ob die Nationalität eines Täters erwähnt werden sollte oder nicht. Deshalb gibt es den Pressekodex. Da steht unter Ziffer 12: „Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung einer Zugehörigkeit zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten Vorurteile schüren könnte.“

Es ist gut, wenn sexualisierte Gewalt öffentlich thematisiert wird. Es ist gefährlich, wenn das undifferenziert passiert. Wer nicht aufpasst, bildet argumentativen Grund und Boden für populistische Forderungen und rassistische Ressentiments.

Es ist gut, wenn Frauen auf die Straße gehen, um gegen Sexismus zu protestieren. Wenn sich Rechte in ihre Reihen mischen, sollte ihnen das aber nicht egal sein. Rassismus und Sexismus darf man nicht gegeneinander abwägen und niemals das eine in Kauf nehmen, um das andere zu thematisieren. Wer die Machtverhältnisse ändern will, kann nicht mit RassistInnen gemeinsame Sache machen. Denn das ist gefährlich, falsch und hat mit Emanzipation nichts zu tun. Katharina Schipkowski

Die Autorin ist 30, lebt auf St. Pauli und macht Führungen auf dem Kiez

Präzises Wissen ist notwendig

Nach den Übergriffen von Silvester wird in der linken Szene viel darüber gesprochen, was man jetzt nicht tun darf: etwa eine „unpolitische“ Demo von Frauen gegen sexualisierte Gewalt auf der Reeperbahn unter dem Motto „Finger weg! Wir sind kein Freiwild“ durchzuführen.

Frauen, die dazu aufgerufen hatten, mussten sich erst mal im Internet einer politischen Befragung stellen und den Rassismus-Verdacht entkräften. Am Ende ihrer kleinen Demo wurden sie von einem Antifaschisten beschimpft, weil sie statt einer erklärenden Rede nur ihre Schilder hochhielten.

Zwei Tage später folgte die Meldung der Polizei, dass ein 23-jähriger Flüchtling aus Somalia eine Zehnjährige auf dem Schulhof auf den Mund küsste. Er wollte sie wiedersehen und wurde am nächsten Tag verhaftet. Ist das schon Hetze? Ist es nicht relevant, dass es sich um einen Flüchtling handelt? Die Frage ist berechtigt. In der Berichterstattung über Straftaten darf laut Pressekodex die Zugehörigkeit der Täter zu ethnischen Minderheiten „nur erwähnt werden, wenn für das Verständnis des Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“.

Vorsichtig überlegt könnte man sagen: Es ist ein Unterschied zu wissen, ob ein 23-Jähriger, der in Hamburg aufgewachsen ist, am Schultor steht und als Fremder eine Beziehung zu einem Kind einfordert oder ob dies ein junger Mensch tut, der erst seit Kurzem in diesem Land in einer Massenunterkunft lebt. Für die Einordnung ist die Information „Flüchtling aus Erstunterkunft“ relevant. Keineswegs ist es so, dass ein solcher Vorgang, wird er von einem Deutschen begangen, auf keine mediale Empörung stößt. Das zeigt ein Blick in Zeitungsarchive.

Wenn wir beschreiben wollen, was in der Stadt passiert, müssen wir es präzise tun. Es geht dabei nicht darum, zu wissen, welche Ethnie die Personen haben, sondern welche Lebenserfahrung. Es geht auch um Opferschutz und Erkenntnisse, die der Prävention dienen können. Gibt es vielleicht mehr Flüchtlinge in verzweifelter Lage, die irriger Weise glauben, über den Kontakt zu jungen Mädchen ihre Bleibeperspektive zu verbessern?

Weite Teile der linken Szene reden nicht über die Perspektive der Opfer. Die Vorfälle sind ärgerlich, weil sie den Rechtspopulisten nutzen. Die sexualisierten Übergriffe der Silvesternacht werden mit dem Oktoberfest verglichen und als nichts Besonderes abgetan.

Die Diskussion erinnert etwas an die der 70er-Jahre, als die Frauenfrage als „Nebenwiderspruch“ im Kapitalismus abgetan wurde. Seither wurde viel erreicht: Mädchen und Frauen dürfen heute frei und auch leicht bekleidet auf der Straße herumlaufen. Das Geschehene ist kein Nebenwiderspruch, sondern Grund genug für eine Demo. Kaija Kutter

Die Autorin ist 51 und schon mit 15 für Frauenrechte auf die Straße gegangen