Entwicklerflüssigkeit, Schreibmaschinen und Petersburger Hängung
: Die Gegenwart ist ein Zeitloch

Foto: Wolfgang Borrs

Erwachsen

von Martin Reichert

Derzeit gibt es für mich nichts Schöneres, als mich in Zeitlöcher fallen zu lassen. Es ist angenehm, wenigstens vorübergehend in die Vergangenheit flüchten zu können. Letzte Woche lief ich an einem Fotofachgeschäft vorbei, aus dem es nach Entwicklerflüssigkeit roch. Ein sehr spezieller, säuerlicher Duft aus der Zeit der Analogfotografie.

Mit einem Schlag war ich wieder vorpubertierend in den 80er Jahren. In einem Kellerraum mit Rotlicht Fotopapier in eckige Plastikschalen tauchend, Metallzangen brauchte man dafür. Was für ein kleines, sich wiederholendes Wunder war das, wenn man auf dem belichteten Papier die ersten Umrisse eine Motivs erkannte, die sich dann innerhalb kurzer Zeit zu einem Bild verdichteten. Ein Ausschnitt der Wirklichkeit, den man vor einiger Zeit ausgesucht und nun zu neuem Leben erweckt hatte. Eine Wiederbegegnung mit einem Moment – zugegeben, derart geschwollene Gedanken hätte ich mir damals gar nicht erst gemacht, blöder Teenie, der ich war. Wahrscheinlich dachte ich eher, dass ich mir gerade Zukunftstechnologien aneigne.

In einem Film sah ich vorgestern eine elektrische Schreibmaschine mit Korrektur-Display, was einmal – vielleicht Anfang der Neunziger – als neuester Schrei der Bürotechnologie galt.

Aber leider funktioniert es nicht immer, das mit den Zeitlöchern. Manchmal muss man nachhelfen, zum Beispiel mit Fragen. „Wie war es eigentlich im Insel-Berlin der Achtziger?“ Sitzt man in der richtigen Runde, so wie ich gestern, muss man nur noch zuhören und ist auf den schönsten Trips.

Meine Lieblingsfilmsequenz des Abends: Irgendwo in der westdeutschen Provinz hatte ein findiger Mann den legendären Berliner Club „Dschungel“ nachgebaut. Und dort, so die glaubhafte Schilderung, war die Atmosphäre sogar noch viel besser als im Original in der Nürnberger Straße. Was für ein schönes Zeitloch, in dem einerseits bereits kühle New-Wave-Musik gespielt wurde und andererseits junge Schwäbinnen mit Hippie-Blusen und Fußkettchen mit Glöckchengebimmel herumliefen.

Auch schön war es in dem Neunziger-Zeitloch, in das ich neulich geraten bin. Auch wenn mir Neunziger-Zeitlöcher ein bisschen unheimlich sind, weil ich eigentlich denke, dass das doch erst gestern war. Das Loch tat sich in einer Bar in Berlin-Mitte auf, in der ich früher oft am helllichten Tage Sekt getrunken habe, den ich mir gar nicht leisten konnte. Es gibt sie noch immer, auch wenn sie jetzt anders heißt.

In meiner Zeitloch-Gegenwart waren das alte rote Sofa mit der steilen Lehne wieder da und die Bilder in Petersburger Hängung und die Wirtin mit ihrem kalkweißen Vampirgesicht. Die Leute um mich herum, die alle aussahen, als seien sie gerade aus der U-Bahn gestiegen – und zwar in München –, waren hingegen verschwunden.

Und so möchte es doch bitte weitergehen. Lieber fahre ich endlos Vergangenheitsgeisterbahn, als mich dem Panoptikum der Gegenwart auszusetzen, in dem die Damen von Storch und Petry Karussell fahren. Dumm nur, wenn auch die Gegenwart ein Zeitloch ist, das einen in das Jahr 1932 zurückkatapultiert.

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