Dialoge auf Augenhöhe

INTEGRATION Mehrsprachige Lesungen, kostenlose Rechtsberatung und Erzählsalons.Das junge Berliner Netzwerk „Wir machen das“ bringt Flüchtlinge mit Einheimischen zusammen

Das Bündnis „Wir machen das“ steht für Pragmatismus statt Optimismus

von Jana Bach

Er wollte seine Berliner Eindrücke schildern. Doch es kam anders. Der junge Mann aus Pakistan, Arif M., erzählte dem Publikum nicht aus seinen Buchmanuskripten, sondern aus seinem Leben auf der Flucht. Von einer Familie, die er in Pakistan zurückließ und die sich dort noch immer versteckt halten muss. Von Folter, Tod und Unterdrückung. Das ging an die Nieren.

Knapp 100 Gäste waren der Einladung in die Tucholsky Buchhandlung Ende Januar gefolgt, um „nicht über Flüchtlinge zu reden, sondern mit ihnen“. Viele blieben noch mehrere Stunden, sprachen über das Gehörte oder lernten sich einfach kennen. „Viele arabischstämmige Flüchtlinge aus nahegelegenen Unterkünften hatten ihre Bekannten mitgebracht“, erzählt der Buchhändler Jörg Braunsdorf. „Später am Abend war die Stimmung sehr gelöst.“

Neu Angekommene und Alteingesessene einer Nachbarschaft in Buchhandlungen zusammenzubringen, wo sie Geschichten austauschen und aus ihren Lieblingsbüchern vorlesen, ist eines von vielen Projekten der Initiative „Wir machen das“. Weitere sind der „Chor der Weltbürger“, bei der Integration durch gemeinsames Singen gefördert wird, sowie „Bildkorrektur“, bei der gegen die Angst angezeichnet wird. Das Bündnis entstand zuerst als Netzwerk von 100 Frauen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und öffentlichem Leben – darunter etwa die Malerin Katharina Grosse, Annemie Vanacker, Intendantin des HAU-Theaters, die Moderatorin und Journalistin Tina Mendelsohn und die Verlegerin Angelika Taschen oder die Schauspielerin Vanessa Stern.

„Im Sommer haben wir dann beschlossen, es auch anders zu nutzen“, erzählt Annika Reich, die zu den Mitbegründerinnen vor knapp drei Jahren gehört. Auch sie fuhr zum Lageso, als die Lage sich weiter zuspitzte, verteilte Wasser und Brezeln. Schließlich organisierte die Schriftstellerin Existenzielles für eine irakische Familie. „Was hier bei mir um die Ecke passiert, hat mich umgehauen.“ Sie beschloss, ihre Romanprojekte für ein Jahr auf Eis zu legen.

Helfen sei der erste Schritt, sagt Annika Reich. Jetzt will sie mehr: mit den „Newcomern“ zusammenleben. Nachhaltig handeln. Um eine gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen, bedarf es einer effektiven Umsetzung. Genau hier setzt „Wir machen das“ den Hebel an. Mit Pragmatismus statt Optimismus ans Ziel. „Jeder kann ja etwas“, so Annika Reich. So böten Asylanwältinnen aus ihrem Kreis etwa Rechtsberatung in den Notunterkünften an. Eine Architekturprofessorin hat Wellpappräume entworfen, die in einer „Nonprofit-Aktion“ in Turnhallen eingesetzt werden sollen. Um dort wenigsten ein Mindestmaß an Intimsphäre zu schaffen. Sie als Schriftstellerin organisiere eben „Dialoge auf Augenhöhe“.

Dreißig Veranstaltungen sind bislang fest geplant, „die Verwirklichung von 100 wäre toll“, so Reich. Befreundete Autoren sind entsandt, das Projekt publik zu machen und weitere Buchhändler für das Projekt zu gewinnen. Gemeinsam mit den Flüchtlingen wird das jeweilige Treffen vor Ort konzipiert. Angedacht sind Formate von einer mehrsprachigen Lesung bis zu einem Erzählsalon. Damit es „richtig voll“ wird, sei es am besten, sich mit den Menschen in Kontakt zu setzen, die seit Monaten Amtsgänge oder Ähnliches mit den Flüchtlingen erledigen, rät Jörg Braunsdorf. Er freut sich auf die nächste Lesung in seinen Räumen für Kinder auf Deutsch und Arabisch.

Die Münchner Verlage Hanser und Kunstmann und der Börsenverein unterstützen das Projekt bereits. Unlängst ist aus dem Aktionsbündnis eine Bewegung geworden, flankiert von zahlreichen Personen und Institutionen unterschiedlichster Couleur.

„Grundsätzlich fahren wir jetzt dreigleisig“, erklärt Annika Reich. „Zum einen entwickeln wir diese Prototypen aus unseren jeweiligen Expertisen heraus.“ Zum anderen heißt es nun, Kräfte bündeln, sichtbar werden – etwa mit einer Präsentation der Projekte auf der eigenen Webseite. Eine Kampagne zu starten ist ein weiterer Schritt. Um Sprachrohr für all jene zu sein, die empathisch agieren und sich bereits engagieren. „Das sind laut Politbarometer immerhin 37 Prozent“, so die Schriftstellerin. Im Gegensatz zu den lautstark vertretenen Anhängern von Pegida und AfD hätten diese nämlich keine Stimme.

Es ist überraschend, dass Reich die Frage bejaht, ob sie Angst habe. Die Politik ergreife momentan Maßnahmen, die kontraproduktiv sind, sozial und ökonomisch. Beschlossenes, wie zum Beispiel das „Asylpaket II“ oder der „Duldungsstatus“, verwehre den geflohenen und nun hier angekommen Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft. „Beschlüsse fallen in einem Affenzahn“, auch sie käme nicht hinterher, würde sie sich nicht gerade ständig mit einer Staatstheoretikerin und den Asylanwältinnen austauschen.

„Wir machen das“ steht nicht für Meinung. Sie wollen „die an den Realitäten vorbei geführten Debatten“ nicht weiter nähren, aber einen kritischen Standpunkt beziehen. Ohne Idealismus geht das wohl nicht.

Selbstbestimmung statt Mitleid

Die Mitgründerinnen Annemie Vanacker (HAU-Intendantin) und Prof. Dr. Sabine Hark auf der Launchfeier der Webseite Foto: Juliette Moarbes

Das Berliner Netzwerk „Wir machen“ ist ein Bündnis aus 100 Frauen aus Kunst, Wissenschaft und öffentlichem Leben. Im Vordergrund ihrer Arbeit steht der Anspruch, der Herausforderung der Migration mit Menschlichkeit jenseits von Mitleid zu begegnen. Vom Kleiderfalten bis zum Lobbyismus, von Sammelklage bis Seenotrettung, von Rechtsberatung bis Sprachvermittlung, von kultureller Teilhabe bis Arbeitsplatzvermittlung. Neben dem „Chor der Weltbürger“ veranstaltet das Bündnis auch landesweite Projekte wie „Begegnungsort Buchhandlung“, bei denen Geflüchtete von ihren Erlebnissen erzählen und aus ihren Lieblingsbüchern vorlesen (Weitere Infos zu aktuellen Aktionen: www.wirmachendas.jetzt).