Gefühl von Ungerechtigkeit

Islamismus Ein Verein bietet in Hamburg und Bremen Fortbildungen für Lehrer und Jugendliche zum Umgang mit sich radikalisierenden jungen Muslimen an

An einem Hamburger Gymnasium fordern einige muslimische Jugendliche einen Gebetsraum. Die Schule beschließt nach längerer Diskussion, diesen Raum der Stille einzurichten, die Schüler sind einverstanden. Nach zwei Wochen stellt sich heraus, dass niemand von ihnen zum Beten kommt.

Jochen Müller, Mitbegründer des Berliner Vereins Ufuq (Arabisch für „Horizont“), wundert das nicht. „Die eigene Religion wird gebraucht, um Forderungen zu stellen oder zu provozieren mit Sätzen wie ‚Die Scharia ist viel wichtiger als das Grundgesetz‘. Das hat selten etwas mit extremen religiösen Einstellungen zu tun, sondern Jugendliche wollen testen, ob sie ernst genommen werden. Es ist wichtig, mit ihnen zu reden und zu verstehen, um was es wirklich geht“, sagt der Islamwissenschaftler.

Sein Verein berät bundesweit Schulen. In Städten wie Bremen und Hamburg bildet Ufuq Lehrer fort und bietet Workshops für Jugendliche an. Darin geht es um Themen wie „Glaube, Islam und ich“, „Männerbilder, Frauenbilder und Islam“ oder „Was bedeutet eigentlich Scharia?“. Die Teamer sind meist muslimischer Herkunft. Müller ist nach der Durchführung von gut 500 Workshops mit 5.000 Teilnehmern überzeugt: „Indem die Jugendlichen in solchen Fragen denk- und sprechfähig werden, immunisieren die Workshops vor den einfachen Angeboten und Weltbildern von Salafisten.“

Wenig Wissen über Islam

Das Wissen der muslimischen Schüler über den Islam sei meist sehr gering. Gerade in der Pubertät wachse aber bei vielen das Interesse an Antworten zu Religion und Identität, die die Jugendlichen von ihren Eltern oder von Imamen zu selten bekämen. „Sie gehen ins Internet und stoßen auf Prediger wie Pierre Vogel, der in 30 Sekunden den Islam erklärt. Die meisten finden ihn blöd, aber jeder kennt ihn“, sagt Müller. Und betont: „Über Salafismus braucht man gar nicht zu reden, es geht um Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Werte.“

Ufuq hat 2015 den Band „Protest, Provokation oder Propaganda?“ veröffentlicht, der sich als Handreichung zur Prävention vor salafistischer Ideologisierung in Schule und Jugendarbeit versteht. Dort werden Beispiele für Fragen zur Einleitung eines Unterrichtsgesprächs über Religion und Werte gegeben wie „Was ist für Euch ein guter Muslim?“ oder „Was wünscht Ihr Euch für Eure Kinder?“ Dabei können Pädagogen den Blick auf Werte wie Toleranz und soziale Verantwortung lenken, die auch im Islam selbstverständlich sind. Eine zentrale Leitfrage für Müller bei solchen Gesprächen: „Wie wollen wir leben?“ Dabei sollten Lehrer die Antworten der Schüler respektieren und ihnen so ihre Wertschätzung zeigen.

Der Lehrer Ramses Michael Oueslati bildet in Hamburg im Auftrag des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Kollegen im Bereich Islamismusprävention fort. „Viele Lehrer wissen nicht, was Ausländer im Alltag an Rassismus erleben. Ich kann ihnen aus eigenem Erleben schildern, wie es ist, wenn man wegen seines Migrationshintergrunds nicht in die Disco reinkommt. Das muss man wissen, um zu verstehen, warum sich viele muslimische Jugendliche ungerecht behandelt fühlen“, sagt er.

Muslime gegen Märtyrer

Für Oueslati ist Geduld gefragt, um auf Provokationen zu reagieren. Er glaubt: „Salafisten haben einfache Antworten. Wir müssen zeigen, dass es verschiedene Antworten gibt und dass auch Gegenbewegungen existieren. Im Libanon etwa wenden sich junge Muslime mit dem Slogan ‚I`m not a martyr‘ gegen Selbstmordattentäter.“

Die Ufuq-Fortbildungen für Pädagogen werden vor allem von Grundschul- und Berufsschullehrern besucht, die in sozialen Brennpunkten liegen. Lehrer der Fächer Religion, Ethik sowie Werte und Normen sind besonders stark vertreten. In den Kursen geht es laut Müller darum, zwischen Provokation und Ideologie zu unterscheiden. Mit Tätowierungen könnten Schüler kaum noch Eindruck schinden. Wer voll verschleiert oder mit einem langen Bart nach den Sommerferien in die Schule komme, könne jedoch damit rechnen, aufzufallen.

Eine Reaktion auf die Äußerung einer 15-Jährigen „Nein, ich bin nicht Charlie – ich bin die über 1,5 Millionen toten Muslime, die in den letzten Jahren durch die blutige Hand der Westmächte getötet wurden“ falle Lehrern oft nicht leicht. „So eine Aussage macht das Mädchen ja noch lange nicht zur Salafistin“, sagt Müller. Es gelte, das hinter dem Unmut stehende jugendtypische Gefühl von Ungerechtigkeit und Diskriminierung aufzunehmen.

Tina Aygün ist eine von 30 Lehrkräften in Niedersachsen, die islamische Religion unterrichten, an der Albert-Schweitzer-Grundschule in Hannover. Sie beobachtet, dass sich sowohl die Kinder als auch die Eltern stark mit dem Fach identifizieren und so ein Vertrauensverhältnis zur Schule aufgebaut wird. „Durch die Kenntnisse über den Islam lassen sich die Schüler später nicht blenden“, ist Aygün überzeugt.

Letztes Mittel Rausschmiss

Auch für Müller geht es in den Schulen um Präventionsarbeit. „Wir treffen dort selten radikalisierte Jugendliche. Die heutigen Schüler sind meist nicht religiöser als ihre Eltern, aber die Religion spielt bei vielen eine größere Rolle für ihre Identität.“ Vor zu schnellen Schulverweisen für radikalisierte Jugendliche warnt er: „Man muss auch die anderen Schüler vor Agitation schützen, aber der Rausschmiss kann nur das letzte Mittel sein. Die Schule ist eine wichtige Bindung in ein normales Milieu – wenn sie reißt, kann dies der Auslöser für das Untertauchen in eine radikale Szene sein.“ Joachim Göres

Seit 2015 gibt es in Hannover die Beratungsstelle zur Prävention neosalafistischer Radikalisierung (www.beraten-niedersachsen.de), die für das ganze Bundesgebiet zuständig ist