Hamburger Sehnsucht

VOLKSTHEATER Fatih Akins Film „Soul Kitchen“ ist ein Stück moderne Hamburger Folklore. Nun hat das Ohnsorg-Theater den Stoff auf die Bühne gebracht – in Plattdeutsch

Ohne Migrationshintergrund: Sino (Holger Dexne, l.) mit Bruder Linus (Tim Ehlert, r.)  Foto: Sinje Hasheider

von Klaus Irler

Es gibt zwei Anzeichen, dass es ein Stück Popkultur geschafft hat, Hamburg-Folklore zu werden. Erstens: Wenn ein Künstler auf ein Fahrgeschäft oder eine Fressbude des Volksfestes Hamburger Doms aufgepinselt wird. Udo Lindenberg, Hans Albers, Freddy Quinn, alle blicken sie herunter von Schiffschaukeln oder Krapfenbäckereien.

Das zweite Anzeichen ist, wenn der stocknüchterne Anti-Pop-Bürgermeister Olaf Scholz seine Zeit und Aufmerksamkeit einem Stück Hamburger Popkultur widmet. Nach Heidi Kabels Tod 2010 gab es lange keine Pop-Würdigung von Scholz. Bis kürzlich das Stück „Soul Kitchen“ im Ohnsorg-Theater Premiere hatte. Da saßen er und die zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) in der ersten Reihe. Scholz stellt zwar laut Hamburger Abendblatt das von der Bühne gereichte Bier zur Seite ab, sagte aber der Welt: „Ich fand selten etwas so vergnüglich wie diese Aufführung.“ „Soul Kitchen“ im Ohnsorg-Theater, das ist die plattdeutsche Theaterfassung des gleichnamigen Films von Fatih Akin, der Ende 2009 herauskam und ein internationaler Erfolg wurde.

Die Geschichte erzählt von dem 35-jährigen Zinos, der das charmant runtergerockte Lokal „Soul Kitchen“ in einem noch nicht angesagten Hamburger Stadtteil führt. Die Betonung liegt auf „noch“: Ein schmieriger Immobilien-Investor weiß um das Potenzial des Grundstücks und will Zinos den Laden abkaufen. Zinos aber interessiert das nicht, er ist beschäftigt mit seiner Beziehung, die gerade den Bach runtergeht, seinem Rücken, den ein Bandscheibenvorfall quält, und seinem Bruder, der aus dem Gefängnis kommt und im „Soul Kitchen“ arbeiten will.

Volkstümliches Potenzial

Was fast keiner der Filmkritiker, wohl aber die Theaterleitung im Ohnsorg-Theater bemerkte, das war das volkstümliche Potenzial der Geschichte und ihrer Figuren. Im Film spielte Adam Bousdoukos einen Zinos, der mit seinen überzeichneten Gesten und seiner charmanten Naivität direkt aus dem Ohnsorg-Theater hätte stammen können – abgesehen nur vom Migrationshintergrund des Deutsch-Griechen.

Ferner mangelt es dem Film nicht an zotigen volkstheatertauglichen Witzen. Vor allem aber passt die Grundstruktur der Geschichte hervorragend ins Ohnsorg-Theater: Eine soziale Idylle wird bedroht durch einen Angriff der kalten Außenwelt. Die Theater-Inszenierung betont diesen Aspekt, indem sie die „Soul Kitchen“-Clique plattdeutsch reden lässt und die Invasoren, also den Immobilienhai und die Frau vom Finanzamt, hochdeutsch.

Den Migrationshintergrund des Film-Hauptdarstellers lässt Regisseur Ingo Putz einfach weg, aus Zinos wird Sino, gespielt von Holger Dexne. Integriert ins Bühnengeschehen wird dafür die schwarze Soul-Sängerin Love (Love Newkirk), was gleich mehrere positive Effekte hat: Der Multikulti-Aspekt ist irgendwie bedient, es gibt sehr gute Musik und einigen Raum für die tatsächlich beeindruckenden Fähigkeiten, die Newkirk als Entertainerin hat.

So begradigt und gewürzt ist die „Soul Kitchen“-Erzählung ein Stück Hamburg-Folklore moderner Prägung. Anders als bei Heidi Kabel geht es nicht mehr darum, wie sich die Hamburger gerne selbst sehen, sondern darum, wie sie gern wären. Nämlich: lockerer im Umgang mit Geld.

Sehnsucht nach Nestwärme

In der nestwarmen Soul Kitchen-Gemeinschaft werden Geschäfte aus Leidenschaft gemacht, nicht der Profitmaximierung wegen. Geld spielt eine nachgeordnete Rolle hinter der Liebe und der Solidarität. In dieser Gemeinschaft haben alle ihr Herz am richtigen Fleck und lassen sich nicht verbiegen vom Druck der Investoren, vom Hamburger Immobilien-Wahnsinn und der übereifrigen (Finanz-)Bürokratie.

Anders als bei Heidi Kabel geht es bei „Soul Kitchen“ nicht mehr darum, wie sich die Hamburger gerne selbst sehen, sondern darum, wie sie gern wären. Nämlich: lockerer im Umgang mit Geld

Im realen Hamburg klappt das mit dem Nicht-Verbiegen-Lassen selten, mehr noch als anderswo regiert das Geld. Die Macht von Investoren, Immobilien-Besitzern und Behörden ist im prosperierenden Stadtstaat besonders ausgeprägt. Der Erfolg von „Soul Kitchen“ zeigt, dass es in Hamburg eine nicht geringe Sehnsucht gibt, diesen Machtverhältnissen etwas entgegenzusetzen.

Wie nahe die „Soul Kitchen“-Erzählung an der Realität ist, das zeigt das Schicksal der Halle, in der der Film gedreht wurde. Die befindet sich im Stadtteil Wilhelmsburg und wurde von 2010 bis 2013 von einer Gruppe unkommerzieller Kulturveranstalter zu einem coolen Ort für Off-Kultur jeder Art gemacht. Überlassen wurde das Gebäude von der Stadt, die sowieso an einer kulturellen Aufwertung des Stadtteils interessiert war.

Trotz funktionierenden Konzepts schloss das Bezirksamt die Halle plötzlich wegen Brandschutzmängeln und die Finanzbehörde plante einen Verkauf an ein Unternehmen der Hafenwirtschaft. Der ließ sich auch aufgrund einer Schadstoffbelastung des Bodens nicht realisieren. Was nun aus der Halle wird, ist ungewiss. Mit einem Happy End, wie es Film und Theater für die Halle bereithalten, ist nicht zu rechnen.

Während die reale Halle leer vergammelt, verschafft das Ohnsorg-Theater der Erzählung neue Aufmerksamkeit. Damit macht es zugleich einen großen Schritt in Richtung Modernisierung. Das Ohnsorg beweist mit „Soul Kitchen“ seine Kompetenz für Hamburg-Folklore und erreicht zugleich ein jüngeres, urbanes Publikum.

Nachhaltig dürfte der Effekt aber nicht sein: Das Ohnsorg hat einen Stoff für sich entdeckt, aber keinen Star. Der Film-Zinos Adam Bousdoukos wäre ein Kandidat. Aber dazu müsste das Volk bereit sein – für Volksschauspieler mit Migrationshintergrund.

Sa, 2. 4., 16 + 20 Uhr; So, 3. 4., 20 Uhr, Hamburg, Ohnsorg-Theater. Weitere Aufführungen ab Juli