Schule Die letzten Abiturprüfungen stehen an. Danach beginnt die beste Zeit des Lebens. Heißt es. Unsere Autorin hat selbst vor zwei Jahren Abitur gemacht und wollte wissen: Wie sehen es SchülerInnen heute – und wie sieht es im Rückblick aus?
: Große Freiheit. Oder?

Es gibt die Freiheit, sich so anzuziehen: AbiturientInnen in Greifswald vor einigen Jahren Foto: Urs Kluyver/Agentur Focus

Annegret Rosendahl

Foto: Dshamilja Roshani

Die Lehrerin, 65, machte 1969 Abitur. Nach dem Studium arbeitete sie als Politik- und Englischlehrerin. Mittlerweile ist sie im Ruhestand.

Elí Klose

Foto: privat

Der Schüler, 19, hat gerade in Bremen seine letzte Abiturprüfung abgelegt. Er studiert nun Philosophie in Berlin. Auf Abiball und Abifahrt hatte er keine Lust.

Marek Hornschild

Foto: Dshamilja Roshani

Der Unternehmer, 43, machte 1992 Abitur. Danach studierte er zunächst Jura und BWL. Durch Zufall, wie er sagt, landete er dann in der Energiewirtschaft.

Anastassija Kononoa

Foto: Dshamilja Roshani

Die Volontärin, 26, machte 2009 Abitur. Gerade macht sie eine einjährige Ausbildung bei urlaubsheld.de, wo sie Ferien­ziele empfiehlt. Ihr Tipp für diesen Sommer: Osteuropa.

Interviews Dshamilja Roshani

„Das Abitur wird immer kommerzieller“

taz.am wochenende: Frau Rosendahl, Sie haben 1969 Ihr Abi­tur gemacht. Wie haben Sie sich gefühlt?

Annegret Rosendahl: Das Leben war sehr offen für mich. Unendlich. Das Abitur war der Beginn der Unabhängigkeit, ich kam weg von zu Hause. Das bedeutete Freiheit.

Sind Ihre Vorstellungen wahr geworden?

Einiges ist nicht so geworden, wie ich es mir damals vorgestellt habe. Ich dachte, ich würde weit in die Welt hinausgehen, weiter, als ich es dann wirklich tat. Am liebsten hätte ich journalistisch oder schriftstellerisch gearbeitet, Filme gemacht – schlussendlich entschied ich mich aber für Sicherheit und damit für den Lehrerjob. Und dann steckte ich ganz plötzlich im Arbeitsalltag, weit entfernt von dem, was ich ursprünglich wollte. Ich wurde aber trotzdem zufrieden damit.

Steht Abiturienten heute wirklich die Welt offen?

Ja, da hat sich einiges geändert. Auch uns stand die Welt damals offen, allerdings auf andere Art als heute: Wir brachen aus der Enge der Familie und deren starrer Moral aus. Im Studium, während der 68er Bewegung, waren wir sehr frei – aber auch sehr anders, vor allem in dem, wer wir zu sein glaubten. Heute gehen junge Leute schon während der Schulzeit oft ins Ausland, das war damals nur für eine sehr bestimmte winzige Schicht möglich. Nun ist alles internationaler, die Eltern geben ihren Kindern sehr viel mehr von der Welt mit, sogar wenn sie aus anderen Verhältnissen stammen.

Hat der Lehrerberuf Ihre Sicht auf die Abiturzeit verändert? Ich habe das Gefühl, dass das Abi­tur immer kommerzieller wird. Für uns Schüler gab es damals eine kleine Verabschiedung in der Aula, aber an eine große Feier kann ich mich nicht erinnern. Abifahrt, Abibuch, Abiball – das fing alles erst in den vergangenen Jahren an. Auch den Abistreich gibt es noch nicht lange, der hat mich als Lehrerin überrascht.

Und all das, was Sie in der Schule gelernt haben? Was bleibt hängen, was braucht man nie wieder?

Ich habe viel vergessen, vor allem bezüglich Naturwissenschaften. Aber ich glaube fast, dass ich es schon damals nicht wirklich gewusst habe, höchstens kurzfristig. Dinge wie Chemie habe ich vielleicht gar nicht vergessen, sondern einfach nie verstanden.

„Die Welt schließt sich, statt sich zu öffnen“

taz.am wochenende: Du hast dieses Jahr Abitur gemacht, bist gerade mit den Prüfungen durch. Wie war’s?

Elí Klose: Ganz zufriedenstellend. Ich habe mir zugegebenermaßen auch keinen großen Stress gemacht.

Was bleibt nun? Unbändige Freiheitsgefühle oder einfach nur Erleichterung?

Eigentlich bin ich vor allem froh, mit der Schule fertig zu sein. Die Schule übt einen gewissen Determinismus über die eigene Zeit aus. Aber eigentlich begebe ich mich ja gleich wieder in neue Fesseln, durch die Universität. Ich habe schon in der 10. Klasse begonnen, Philosophie zu studieren, denn bei uns wurde nur Religionsunterricht, aber keine Philosophie angeboten, die mich schon lange interessiert. Und irgendwann ist man an einem Punkt, wo man autodidaktisch nur mühsam weiterkommt. Also habe ich ein Frühstudium begonnen, das parallel zur Schule lief. Dieses Studium werde ich nun in Berlin weiterführen und freue mich darauf, weil die Art, wie Wissen kommuniziert wird, mir deutlich mehr zusagt. Hauptsächlich bin ich froh, aus dem Frontalunterricht herauszukommen.

Steht dir nun die Welt offen?

Ehrlich gesagt kann ich mich nicht wirklich davon freimachen, was um mich herum passiert. Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa sind so stark geworden, dass ich gar nicht wirklich von Freiheit sprechen möchte. Da gibt es ja nicht nur die AfD in Deutschland, sondern das Phänomen zieht sich durch fast alle europäische Staaten – und auch in Amerika verspürt Donald Trump einen unglaublichen Aufwind. Das finde ich sehr bedenklich, diese Fremdenfeindlichkeit ist unerträglich und macht es mir schwer, zu reisen. Natürlich könnte man durchs Reisen auch versuchen, die Toleranz wieder aufzubauen, denn das Leben der Werte schafft ja erst die Manifestation derselben. Dennoch ist die Stimmung sehr unangenehm und wirkt hemmend. Ich habe das Gefühl, dass sich die Welt eher wieder schließt, statt sich zu öffnen.

„Man muss die Freiheit auch greifen wollen“

taz.am wochenende: Du hast vor 21 Jahren Abitur gemacht. Wenn du heute zurückschaust: Wer warst du damals?

Marek Hornschild: Ich konnte alles ganz gut und war damals schon gedanklich kreativ, wusste aber nicht, was der richtige Job für mich ist. Ich empfand so eine Mischung aus Unabhängigkeit und einem gewissen Respekt davor, all die gefühlten Möglichkeiten auch anzugehen. Denn man muss die Freiheit, die sich einem plötzlich bietet, eben auch greifen wollen.

Man kann alles und nichts machen.

Genau. Und damals wusste ich ja gar nicht, was „alles“ ist.

Weißt du es heute?

Nein, witzigerweise nicht. Man muss einfach mit Mut in die Praxis. Ich bin damals auch erst mal ins Ausland gegangen. Sich ins kalte Wasser zu begeben ist wahnsinnig wichtig, auch um sich selbst zu verstehen.

Was bleibt von der Schulzeit?Was Wissen angeht, wurde mir später im Studium viel mehr vermittelt, analytisch und thematisch. Aber ich habe auch dann erst wirklich begriffen, was es heißt, zu lernen. Im Abitur dachte ich immer, ich wüsste es, aber im Endeffekt bin ich irgendwie mit Halbwissen durchgekommen.

Und was bleibt an Freundschaften?

Beim Abitreffen vor fünf Jahren habe ich etwas Erstaunliches gemerkt: Ich habe zu all diesen Leuten, mit denen ich in die Schule ging, ein tiefes Grundvertrauen. Man sitzt jahrelang Tag für Tag zusammen im Klassenraum, auch während einer sehr prägenden Zeit wie der Pubertät, und entwickelt dadurch ein enorm starkes Vertrauen – das ging mir selbst mit Leuten so, mit denen ich damals gar nicht befreundet war. Das ist dann zwar nach einem Treffen sofort wieder weg. Aber man merkt schon, dass man sich gut kennt – sogar viel besser, als man denkt.

„Ich bin seit dem Abi romantischer geworden“

taz.am wochenende: Du hast vor sieben Jahren Abitur gemacht, jetzt arbeitest du für eine Onlineredaktion. Wusstest du damals schon, wo du hinwillst?

Anastassija Kononoa: Nein. Journalistische Arbeit machte mir Spaß, aber ich wusste nicht, wie ich da reinkommen könnte. Deswegen begann ich einfach zu studieren, was mir in der Schule schon Spaß gemacht hat – Sprachen und Geisteswissenschaften. Ohne Plan, wo es hingeht.

Also das romantische „Mir steht die Welt offen“-Gefühl?

Eigentlich war ich schon immer ziemlich rational. Mir war klar, dass man längst nicht alles machen kann, wenn finanzielle oder andere Hürden im Weg stehen. Darum war ich am Anfang des Studiums sehr unsicher: Geisteswissenschaften, was mache ich überhaupt damit? Viele legen sich sofort krampfhaft fest und studieren auf Lehramt, um diese Unsicherheit zu bekämpfen. Ich dagegen lernte, die Offenheit vielmehr als Geschenk zu sehen. Es war bei mir also eher der umgekehrte Prozess: Ich bin seit dem Abi romantischer geworden.

Hast du deiner Jahrgangsstufe je hinterhergetrauert?

Wir waren ein ziemlich großer Jahrgang. Ein inniges Verhältnis hatte ich nur zu einigen Leuten. Auch bei der Abifahrt war ich nicht dabei.

Keine Sauffahrt nach Mallorca?

Nein, da tun dann alle so, als wären wir so unglaublich gut befreundet gewesen.

Wiedersehenstreffen boy­kottierst du dann sicherlich auch.

Ja, es gab eines nach fünf Jahren, da bin ich nicht hingegangen. Mit den Leuten, mit denen ich was zu tun haben will, habe ich immer noch was zu tun, mit den anderen nicht. Und dann diese Prahlerei, „ich war seit dem Abi da und dort, ich hab dies und das gemacht“ – dazu war ich nicht bereit. Vielleicht auch, weil ich mich erst jetzt so richtig gefunden habe.

Aber manchmal sind Abitreffen ja auch aus reiner Neugier interessant – um zu sehen, wie sich die anderen entwickelt haben.

Stimmt, aber früher war das bestimmt noch spannender, weil man ja wirklich gar keinen Kontakt hatte. Heute weiß ich dank Facebook auch Sachen, die ich eigentlich gar nicht wissen will.