Die Vergessenen

SOZIALES Kurz vor Weihnachten nimmt das Mitgefühl für Obdachlose zu. Besonders schwer haben es Menschen aus Osteuropa, die seit einigen Jahren vermehrt nach Berlin kommen

Der gesundheitliche Zustand vieler Obdachloser ist katastrophal

VON JULIA AMBERGER

Man kann die Luft fast mit den Händen fassen, als Katarzyna Hudec den Raum betritt. 20 Leute in Daunenjacken und Wintermänteln sitzen auf den abgewetzten Stühlen des Obdachlosentreffs Café Bankrott, in einer Ecke steht ein Weihnachtsbaum mit silbern glänzendem Lametta. Der Altersdurchschnitt liegt um die 40, durch den Zigarettenqualm sind die Gesichter der Menschen kaum zu sehen. Ein Mann mit dunkler, vernarbter Haut und grüner Wollmütze zupft an einem Fladenbrot, auf einer Decke zu seinen Füßen streckt sich ein Schäferhund. Katarzyna Hudec, 30, grüner Parka, rote Locken, setzt sich an einen Tisch in der Ecke des Raums. An diesem Nachmittag ist sie zum ersten Mal in dem Obdachlosentreff in Prenzlauer Berg, um speziell auf Obdachlose aus Osteuropa zuzugehen.

Hudec, Berlinerin mit polnischen Wurzeln, ist eine von drei „Frostschutzengeln“ und gehört zu dem neuen gleichnamigen Projekt der Berliner Kältehilfe. Die Streetworker, die Polnisch, Russisch und baltische Sprachen beherrschen, suchen dreimal pro Woche osteuropäische Obdachlose in Notunterkünften und Treffs auf, um sie dort über Hilfsangebote, Sozial- und Rechtsfragen aufzuklären. Im Umgang mit Obdachlosen hat Hudec Erfahrung: Nach einer Ausbildung zur Pflegerin hat sie vier Jahre lang mit wohnungslosen Alkoholabhängigen gearbeitet.

Hudec beobachtet einen Mann, dessen Gesicht unter einer schwarzen Kapuze und einem Schleier von Haarsträhnen verdeckt ist – er komme aus Polen, habe sie gehört. Der Mann springt auf, setzt sich wieder hin, läuft mit gekrümmtem Rücken in den Nebenraum, kommt mit einem Salzstreuer zurück, hetzt wieder in den Nebenraum. Hudec folgt ihm. „Eine heiße Schokolade bitte“, ruft sie der Frau im grünen Samtshirt zu, die heiße Getränke ausgibt, und stupst den Mann vorsichtig an. Als er sich zu ihr umdreht, erschrickt sie: Unter den markanten Wangenknochen hat er zwei Löcher in der Wange, eines links, eines rechts, daraus ragen ein orangefarbener und ein blauer Holzstock. Auch auf dem Nasenrücken hat er ein Loch, in dem ein grüner Stab steckt. „Alles okay bei dir?“, fragt Hudec auf Polnisch. „Wenn ich dir helfen kann, melde dich bei mir“, fügt sie hinzu. Doch er winkt ab, lässt sich auf einen Stuhl neben der Bar fallen und starrt ins Leere.

Die Situation in den Obdachlosenheimen hat sich verschärft: Seit Jahren verzeichnet die Kältehilfe einen vermehrten Zulauf von osteuropäischen Bedürftigen. MitarbeiterInnen klagen, dass sie ihrer Beratungstätigkeit nicht mehr nachkommen können, da nur wenige der zugewanderten Obdachlosen Deutsch sprechen. Etwa 50 bis 80 Prozent der Menschen in den insgesamt 17 Notunterkünften stammen aus Osteuropa, schätzt Hudec. Genaue Daten gibt es bislang noch nicht – die will die Kältehilfe in diesem Winter zum ersten Mal sammeln.

Die Lebensgeschichten der obdachlos gewordenen Menschen unterscheiden sich deutlich voneinander, so viel kann Hudec jetzt schon sagen. Einer von ihnen ist Cristie aus Rumänien, Ende 20, Masterabschluss in Bühnendesign. Sein Traum von einem Leben als Künstler in Berlin sei geplatzt, da er nicht genug Geld für eine Wohnung aufbringen konnte, erzählt Hudec. Er sei aufs Geratewohl nach Berlin gefahren, ohne Bekannte, ohne Jobangebot, mit nur wenig Geld in der Tasche. Trotz Grundkenntnissen in Deutsch finde er keine Arbeit. Und selbstständig machen könne er sich nicht – einen Gewerbeschein gebe es nur mit festem Wohnsitz.

„Manche Obdachlose haben sich ihrem Schicksal schon ergeben, die würden in keinem Land mehr auf die Beine kommen“, sagt Hudec. So ein Fall sei Miroslav, Mitte 50, aus einem Dorf an der polnischen Ostsee. Der Poet, wie er sich nennt, sei in der Heimat in den Knast gesperrt worden, erzählt Hudec. Den Grund habe er ihr nicht verraten. Als er wieder rausgekommen sei, sei seine Wohnung gekündigt gewesen – so sei er auf der Straße gelandet. Jedes Jahr erfrieren zahlreiche Obdachlose in Polen. Es sei die Angst vor dem Kältetod gewesen, sagt Hudec, die Miroslav vor vier Jahren nach Deutschland trieb. In den Obdachlosenheimen Berlins bekomme er zumindest zu essen, zu trinken, hin und wieder etwas Wärme und ein wenig Schlaf.

Doch der Andrang auf die Heime sei enorm, so Hudec. Im größten Heim der Stadt, in der Lehrter Straße, schliefen die Bedürftigen auf dem Boden, trotz Gestank und Hektik. Zudem ist der gesundheitliche Zustand vieler Obdachloser katastrophal: Einer Studie der Stadtmission Hamburg zufolge, deren Ergebnisse mit Berlin vergleichbar sind, leidet jeder vierte Obdachlose unter Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes oder ist psychisch krank. Doch eine Krankenversicherung haben nur die wenigsten. „Vor Kurzem hat sich ein Obdachloser den Oberschenkel gebrochen, dann ist er operiert worden und wurde wieder auf die Straße gesetzt“, sagt Hudec. „Mit einer Rechnung von 7.000 Euro.“ Die müsse er erst begleichen, bevor der Versicherungsschutz wirksam werde. Sie gestikuliert wild, wenn sie in Fahrt kommt, wie jetzt: „Die europäischen Mitgliedsstaaten öffnen ihre Grenzen, aber die Sozialsysteme sind nicht auf die Arbeits- und Armutsmigranten eingestellt. Wohin mit all diesen Menschen, wenn sie krank sind?“, fragt sie.

Inzwischen ist es draußen finster, eine Mitarbeiterin des Cafés Bankrott öffnet ein Fenster, Schneeflocken wirbeln durch den Raum. Eine Frau wickelt sich einen Schal um den Hals, stützt sich auf eine Gehhilfe und humpelt nach draußen in den Schnee. Heute wollte niemand mit Hudec sprechen, „ich kann mich ja auch nicht aufdrängen“, sagt sie. In dem Heim für alkoholsüchtige Obdachlose, in dem sie zuvor gearbeitet hat, seien die Menschen zwar „ganz unten“ gewesen – aber wenigstens habe man sie stabilisieren und pflegen können. „Aber hier“, Hudec blickt in die Runde, „hier siehst du, wie die Leute absteigen.“