Ein gutes Händchen

Norddeutschlands Ötzi heißt Moora und wurde beim Torfabbau im niedersächsischen Uchte gefunden. Die Moorleiche ist über 2700 Jahre alt – was Forscher und Uchter in Verzückung versetzt

Wahrscheinlich ist sie im Moor von Inselchen zu Inselchen gehüpft. Hat sich jenseits des Weges durchgeschlagen durch das versumpfte Land hinter der Nordseeküste, womöglich auf der Suche nach Trunkelbeeren. Die nämlich waren beliebt bei den Frühgermanen: Die Trunkelbeere macht lustig. Eine kleiner Stimmungsaufheller im Jahr 650 vor Christus, als das Bier noch über 1000 Jahre entfernt und das Leben hart war.

Dabei ist die Geschichte mit den Beeren nur eine von vielen möglichen Antworten auf die Frage, was das Mädchen im Moor tat. Könnte auch sein, dass sie Vogeleier gesammelt hatte. Oder vor etwas floh. Nur die Varianten Mord oder Bestattung sind unwahrscheinlich: Grabbeigaben fand man keine und auch Anzeichen auf Gewaltanwendung gibt es nicht. Außer die der Torfstechmaschine, die das Mädchen aus dem Uchter Moor im Jahr 2000 klein hakte und zu Tage beförderte.

August Reckweg, der die Torfstechmaschine damals fuhr und die Leiche bemerkte, ist heute 72 Jahre alt und ein Star in Uchte. Immer wieder muss er erzählen, wie er am morgen jenes 6. Septembers 2000 Beinknochen in den ausgeworfenen Torfsoden fand. Reckweg verlangsamte die Fahrt und entdeckte Stich um Stich neue Leichenteile. Er markierte die 80 Zentimeter tiefe Fundstelle mit einer Cola-Flasche und verständigte den Moormeister Reinhold Radtke. Reckweg: „Dass es ein Mädchen war, sah ich sofort.“

Die Kriminalpolizei aus Nienburg transportierte die Leichenteile in Körben nach Nienburg und beschloss: Ein Fall für die Gerichtsmedizin. Bekannt war der Fall eines Mädchens aus der Uchter Gegend, das seit 1969 vermisst wird. Also baten die Gerichtsmediziner die Mutter des vermissten Mädchens zum DNA-Abgleich und stellten fest, dass es sich bei der Leiche nicht um das vermisste Mädchen handeln konnte. Die Akte Moorleiche wurde erstmal geschlossen. Professor Klaus Püschel vom Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Hamburg-Eppendorf wird später sagen: „Das war für die Gerichtsmedizin der Super-Gau, dass es dann eine fast 3000 Jahre alte Leiche war.“

Was sie da auf dem Untersuchungstisch hatten wurde den Gerichtsmedizinern erst im Januar 2005 klar, als die Hand ins Spiel kam. Gefunden wurde sie in unmittelbarer Nähe des Leichenfundortes und bei der Polizei in Nienburg schlug Kriminaloberkommissar Klaus-Dieter Schmidt vor, man könne ja mal die Kollegen vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege fragen. Die waren vom hervorragenden Zustand der Hand überrascht und gaben eine Radiokarbondatierung in Auftrag. Der Befund: Das Mädchen war zwischen 17 und 20 Jahren alt geworden und lebte vor über 2700 Jahren. Für die Polizei in Nienburg war der Fall damit nicht mehr von kriminalistischer Relevanz.

Aber eine Sensation für die Forscher, das war er. „Wir haben keine Ganzkörperfunde aus dem letzten Jahrtausend vor Christus“, sagt der Paläobotaniker Andreas Bauerochse vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. „In jener Zeit herrschte die Feuerbestattung vor und dabei bleibt nichts übrig.“ Geschenkt, dass die Moorleiche durch die Torfstechmaschine in rund 100 Teile zertrennt wurde, denn: Es liegen zirka 90 Prozent des Skeletts vor und es handelt sich um eine außergewöhnlich alte Moorleiche – die meisten anderen Funde stammen aus dem 3. und 4. Jahrhundert nach Christus. Mag sein, dass Ötzi mit seinen 5300 Jahren ein noch höheres Alter bei noch größerer Vollständigkeit aufweist, aber: „Die Möglichkeiten für die Wissenschaft sind vergleichbar“, sagt Moorarchäologe Alf Metzler. Denn beide Leichen waren unter Sauerstoffabschluss gelagert – die eine im Alpengletscher, die andere im niedersächsischen Moor.

A propos Ötzi: Das „Mädchen aus dem Uchter Moor“, wie die Archäologen die Leiche nennen, brauchte einen Namen. Der NDR schaltete sich ein und veranstaltete zur Namensfindung einen Wettbewerb, an dem sich über 1.000 Hörer und Zuschauer beteiligten. Die waren vor allem vom Moor als Fundort begeistert: „Moorle“ war einer der Vorschläge, oder „Kleine Moorjungfrau“ oder „Mooriel“. Die Wahl fiel letztendlich auf „Moora“. Zum Leidwesen der Bewohner von Uchte, denen eine Verbindung zur ihrer Samtgemeinde vorgeschwebt hätte: Samtgemeindedirektor Dieter Sprado will deshalb Anfang 2006 eine Befragung in Uchte starten, „ob man hier mit ‚Moora‘ zufrieden ist“. Ein Gegenvorschlag sei beispielsweise „Uchtilde“ als Verbindung zwischen Ort und germanischer Herkunft des Mädchens.

Denn Uchte, im Internet mit dem Slogan „Moor and More“ angepriesen, ist voll angesprungen auf das Mädchen aus der vorrömischen Eisenzeit. Fotoladen-Besitzerin Anke von Claer-Schaar beispielsweise hat in ihren Verkaufsräumen in der Hauptstraße eine Ausstellung mit Infotafeln organisiert – über den Hergang des Fundes, weil über Mooras Leben noch zu wenig bekannt ist. Zu sehen ist da beispielsweise ein Foto von Moora-Finder August Reckweg, liegend in der Fundgrube des Leichnams, Untertitel: „In dieser Körperhaltung war die Leiche im Torf eingebettet.“ Und nebenan steht auf einer Staffelei ein Werk einer Uchter Künstlerin, die Moora schon mal auf einem Gemälde Gestalt geschenkt hat: Moora als kleine Frau mit kantigen Gesichtszügen, großen Augen und wallendem Gewand unter düsteren Wolken. Erinnert stilistisch an Heiligenbilder aus dem Mittelalter. Dazu gibt es zur Ausstellungseröffnung vom Wirt nebenan selbst gebrautes „Fleckenwasser“, hochprozentig zum Mitnehmen.

Mooras Potenzial ist auch Gemeindedirektor Sprado nicht entgangen. „Wir möchten das Mädchen nach Uchte haben“, sagt er. „Beispiel ist für uns der Ötzi, der ist auch in Bozen, wo man ihn gefunden hat. Um den zu sehen kommen tausende Besucher. Das wäre für uns ein Riesenaufschwung.“ Bereits geplant ist die Eröffnung einer Moor-Bahn für Mitte 2006, hinzukommen soll nun ein Informationszentrum zur Moorleiche. Das Original allerdings will das Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Hannover nicht rausrücken: Moora soll zu den anderen Moorleichen-Promis wie dem „Roten Franz“ ins Landesmuseum nach Hannover kommen. Für Uchte bleibt dann nur die Möglichkeit eines Moora-Modells, nachgebildet unter Berücksichtigung aller Forschungsergebnisse, sagt Sprado.

Wann diese Ergebnisse vorliegen, weiß allerdings niemand. Denn Moora appelliert nicht nur an Heimatgefühle, auch die Techniker und Mediziner sind verzückt: Die Computertomographen beispielsweise liefern Datenmassen, „die schon mal einen Großrechner zum Absturz bringen“, sagt Archäologe Metzler. Laserscanning, Isotopenforschung: „Das wird Monate dauern, die Gestalt von Moora zu rekonstruieren.“ Und immer wieder wird es Sätze geben wie den in der Zeitschrift Rechtsmedizin: „Soweit beurteilbar, wurden zu Lebzeiten keine Zahnarbeiten durchgeführt.“ Zu Lebzeiten nicht – später schon. Die Experten gehen davon aus, dass die Untersuchungen zwischen fünf und zehn Jahre dauern werden.

Zentral bleiben wird dabei die Frage nach der Ursache für den Tod von Moora. Herzschlag? Erfroren? Dass keine Gewalteinwirkung erkennbar ist, unterscheidet das Mädchen aus der Zeit von 650 vor Christus schon mal von Moorleichen-Funden aus der Zeit von 300 vor Christus. Diese Leichen nämlich wurden ermordet, man fand sie oftmals an Pfähle gefesselt oder eingekerkert in einem Morastloch. Häufig ließen sich Stichwunden nachweisen, der „Rote Franz“ beispielsweise wurde mit einem Schnitt durch die Kehle getötet. Der Grund hierfür könnte die Angst der Germanen vor Wiedergängern sein: Wer gegen die Sittengesetze der Germanen verstieß, wurde gleich mehrfach getötet, um zu verhindern, dass die Opfer nach der Hinrichtung zurück ins Leben kamen, um sich zu rächen. Die Experten sprechen von „Overkill“.

Bei Moora aber ist der Großteil aller Fragen offen. An ihren Knochen konnte man bislang lediglich ablesen, dass Moora etwa 1,50 Meter groß und von zierlicher Gestalt gewesen sein muss. Vermutlich hat sie mehrere Hungersnöte und Infektionen durchlebt. Nach ihrer Vermessung am Computer soll sie nun ihr Gesicht wiederbekommen. Bis dahin, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel, könnten aber noch zwei Jahre vergehen. Klaus Irler