„Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl“

Das bleibt von der Woche Die BewohnerInnen der Rigaer Straße 94 haben einen weiteren Sieg vor Gericht errungen, das Land bezahlt alleinerziehenden Müttern und Vätern Babysitter, die Landeswahlleiterin macht sich Sorgen ums Wahlgeheimnis bei der Briefwahl, und „Tschick“ ist in den Kinos angelaufen

Henkels dreister Rechtskniff

Urteil Rigaer94 bestätigt

Henkel verschwieg bewusst die klare inhaltliche Positionierung des Gerichts

„Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Teilräumung der Rigaer Straße 94“ (frei nach Otto von Bismarck). Am infamsten wird es, wenn alle drei Ereignisse zusammenkommen; auch wenn Innensenator Frank Henkel (CDU) und die linke Szene eher einen Klein- als einen richtigen Krieg ausfechten.

Dies sind die Top 3 der Unwahrheiten:

1. Die weiterhin versteckt agierenden Hauseigentümer argumentierten am Mittwoch vor dem Landgericht in Person ihres Anwalts, dass die Räumlichkeiten gar nicht in ihrem Besitz, sondern in Besitz der beauftragten Baufirma übergegangen wären. Demnach hätten sie sich die Räume gar nicht unrechtmäßig angeeignet. Selbst die Richterin reagierte konsterniert ob dieser Dreistigkeit.

2. Frank Henkel betonte stets, es habe in der ersten Instanz kein inhaltliches Urteil gegeben, sondern ein Versäumnisurteil aufgrund der Abwesenheit der Eigentümer. Er verschwieg damit bewusst die klare inhaltliche Positionierung des Gerichts: Eine Räumung ohne Titel ist rechtswidrig. Nach dem Urteil von Mittwoch zog sich Henkel auf die Position zurück, der Polizeieinsatz sei nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen.

3. Die Polizei spielte bei der Räumung keine aktive Rolle, sondern war nur zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anwesend – so stellt es Henkel bis heute dar. Ein Rechtskniff, um einen illegalen Einsatz für eine illegale Räumung zu legitimieren. Damit wird sich demnächst das Verwaltungsgericht beschäftigen.

Immerhin: Für etwas mehr Wahrhaftigkeit besteht Hoffnung: Die Zeit vor der Wahl geht zu Ende, und noch wichtiger: Eine "Kriegspartei" wird demnächst ausscheiden. Erik Peter

Ein Segen für alleinlebende Eltern

Staatliche Babysitter

Die neue Anlaufstelle dürfte die Schwelle senken, einen Job anzunehmen

Mütter oder Väter, die mit ihrem Nachwuchs allein leben und im Schichtdienst arbeiten, haben ein Problem: Wohin mit dem Kind, wenn sie morgens um vier Uhr das Haus verlassen müssen und sich keinen Babysitter leisten können? Die Tochter oder den Sohn mitten in der Nacht aus dem Bett reißen, in eine 24-Stunden-Kita bringen oder zu einer Tagesmutter? Das ist zwar theoretisch möglich, aber in der Praxis für die Familien eine Qual. Es gibt wohl kaum Eltern, die ihren Kindern so einen Alltag zumuten wollen.

Insofern ist es ein großer Fortschritt, wenn der Senat wie am Mittwoch angekündigt, jetzt eine mobile Betreuung für solche Fälle einrichtet. Ab Januar sollen Tagesmütter oder -väter vermittelt werden, die auf die Kinder auch nachts und am Wochenende in den eigenen vier Wänden aufpassen – ein vom Staat bezahlter Babysitter­service. Die Betroffenen müssen beim Amt ihren Bedarf nachweisen, dann bekommen sie für die Betreuung einen Gutschein.

Ein ähnliches privates Projekt zeigte in der Vergangenheit, dass der Bedarf groß ist. 100 Familien standen dort auf der Warteliste. Und auch der Stadt kann so ein Angebot am Ende nutzen: Jedes vierte Kind wächst in Berlin bei einer Alleinerziehenden auf. Nur ein Teil der Mütter – die meisten sind tatsächlich Frauen – arbeitet auch. Die neue Anlaufstelle dürfte die Schwelle senken, einen Job mit schwierigen Zeiten anzunehmen.

Einziger Haken: Die BetreuerInnen sollen einen Stundenlohn von 8,50 Euro erhalten. Ob sich für dieses Geld qualifiziertes Personal findet, bleibt abzuwarten. Tagesmütter werden schließlich schon länger gesucht. Viele von ihnen betreuen die Kinder dann vielleicht doch lieber in der eigenen Wohnung. Und zu normalen Zeiten.

Antje Lang-Lendorff

Die Briefwahl muss anders werden

Skeptische Wahlleiterin

„Briefwahl vor Ort“ heißt: vor der Wahl im Rathaus wählen – in der Wahlkabine

Ist es wichtiger, die Stimmabgabe so flexibel wie möglich zu gestalten? Oder muss auch bei allen Bemühungen um eine hohe Wahlbeteiligung im Vordergrund stehen, dass die Wahlgrundsätze der geheimen und freien Wahl gewahrt bleiben? Denn Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach, die schon in Sachen drohender Wahlgefährdung durch überlastete Bürgerämter Klartext redete, befürchtet Beeinflussung – und das zu Recht. „Was zu Hause am Küchentisch passiert, kann niemand kontrollieren“, kritisierte sie am Mittwoch vier Tage vor der Abgeordnetenhauswahl.

Ob Vater oder Mutter, Gattin oder Gatte, Mitbewohner oder Vermieter – wer auch immer ein Druckmittel in der Hand hat, kann bei Briefwahl zumindest theoretisch die von ihm Abhängigen nötigen, in seinem Sinne abzustimmen, und das kontrollieren. Ein Familienvorstand kann zwar auch vor einem normalen Gang zum Wahllokal seinen Anverwandten Druck machen. Aber im Wahllokal und der abgeschirmten Wahlkabine sind diese sicher davor, dass der zuguckt, wo sie wirklich ihr Kreuz machen.

Wahltheoretische Erbsenzählerei? Keineswegs. Über eine halbe Million Mal wurden bei dieser Wahl bereits Briefwahl­unterlagen ausgegeben, fast jeder fünfte Berliner Wahlberechtigte nutzt diese Möglichkeit. Das mag ja nett sein, um sich nicht nur wegen einer Urlaubsreise oder Krankheit die absolute Flexibilität zu erhalten, den kompletten Wahlsonntag außerhalb der Stadtgrenzen zu verbringen.

Doch der Preis – die nicht gewährleistete geheime und direkte Wahl – ist dafür zu hoch. Briefwahl in jetziger Form, nämlich per Post, sollte künftig nur noch Menschen möglich sein, die sich wegen Krankheit oder Behinderung gar nicht zum Wahllokal hinbewegen können.

Vorher abstimmen könnten alle anderen, die das so wollen und auch nicht den Verlauf des Wahlkampfs abwarten möchten: Es müsste nur zur einzigen Möglichkeit werden, was jetzt noch bloße Alternative ist: die sogenannte „Briefwahl vor Ort“. Das heißt: in den Wochen vor der Wahl ins Rathaus oder Bürgeramt gehen, den Ausweis vorzeigen, die Unterlagen bekommen und dann zwingend allein in einer Wahlkabine die Kreuze zu machen.

Damit ist allen gedient – der geheimen und freien Wahl genauso wie dem Bestreben, dass möglichst viele abstimmen. Wer selbst über mehrere Wochen nicht die Zeit erübrigt, einmal im Rathaus vorbeizuschauen, der braucht leider einen AfD-Wahlerfolg, um aufzuwachen und endlich zu merken, wie wichtig es ist, das Wahlrecht nicht nur zu haben, sondern auch zu nutzen. Stefan Alberti

Lebendig
wie Laub-
sägearbeiten

"Tschick" im Kino

Erstaunlich fast, dass die Besetzung ganz ohne Katharina Thalbach auskommt

Kann man Tausende Sterne am Brandenburger Himmel zählen, wenn man nachts unter einem Windrad liegt? Geben die mit ihrem Positionslampengeblinker nicht viel zu viel Streulicht ab? Wahrscheinlich ist das so. Und wahrscheinlich sind solche Fragen die größtmögliche Korinthenkackerei, wenn es darum geht, ein Urteil über „Tschick“ abzugeben, Fatih Akins Verfilmung des Bestsellers vom 2013 gestorbenen Wolfgang Herrndorf. Ein Road-Movie, das schon als Buch eines war, ein Coming-of-Age-Film, ein Sommerfilm und irgendwie auch ein Berlin-Brandenburg-Film.

Aber leider auch kein guter Film und schon gar kein „bonfortionöser“ (Tschick), sondern allerhöchstens ein ziemlich mittelprächtiger, bei dem einen irgendwann sogar das Windrad-Paradox aufregt. Was angesichts der Vorlage, die Millionen LeserInnen vollkommen zu Recht begeistert hat, natürlich ein vernichtendes Urteil ist. Die Story der beiden Antihelden, die mit ihrer Irrfahrt im geklauten Lada nicht in der Walachei, sondern nur ganz unten ankommen und trotzdem mehr über Freundschaft und Vertrauen lernen als andere in einem halben Leben, die konnte man kaum aus der Hand legen. Im Kino wird man nach einer Stunde unruhig und ist beinahe froh, dass einige starke Episoden einfach unter den Tisch gefallen sind.

Denn Akin inszeniert die Geschichte mit den Mitteln eines x-beliebigen deutschen Jugendfilms: Im Plot schnurren die skurrilen Elemente der Erzählung zur Freakshow zusammen, die Kamera fliegt und zoomt ständig wie bekokst durch das bonbonbunte Setting, die Nebendarsteller chargieren mächtig und irgendwer schmiert sich was ins Gesicht. Erstaunlich fast, dass die Besetzung ganz ohne eine augenrollende Katharina Thalbach auskommt.

Den beiden Protagonisten Maik (Tristan Göbel) und Tschick (Anand Batbileg) fehlt es aufgrund ihrer im Grunde ja beneidenswerten Jugendlichkeit schlicht an schauspielerischer Erfahrung. Viele ihrer Dialoge sind lebendig wie Laubsägearbeiten. Und dem Wodka saufenden Tschick wie auch dem Müllmädchen Isa (Mercedes Müller) sieht man sofort an, dass ihre Darsteller wohlbehütet aufgewachsen sind und die Verwahrlosung mühsam spielen.

Ist das eine Anseh-Warnung? Unbedingt. Es sei denn, man hat Herrndorfs „Tschick“ nicht gelesen oder ist selbst gerade am Pubertieren. Dann kriegt man die 93 Minuten Herrndorf-Verschnitt mit Popcorn problemlos runter. Für alle andern ist der Kinobesuch definitiv „ohne Sinn“ (Tschick). Claudius Prößer