Der „Dschungel“ liegt in Schutt und Asche

Frankreich Der Abbau des Flüchtlingscamps geht zügig voran. Immer mehr Frauen demonstrieren für Ausreise nach England

Rauchsäulen über dem „Dschungel“ Foto: Matt Dunham/ap

Aus Calais Tobias Müller

Auch der dritte Tag der Räumung des inoffiziellen Flüchtlingscamps der französischen Hafenstadt Calais beginnt mit langen Wartereihen. Über mehrere hundert Meter ziehen sich die Schlangen vor der Abfahrtsstelle der Busse. Viele Wartende sind nach einer kalten Nacht in Decken gehüllt. Wie so oft in diesen Tagen erinnert Calais an die Balkanroute im Herbst 2015.

An diesem Morgen setzt der Exodus aus dem „Dschungel“ besonders früh ein. Schuld daran sind mehrere Brände, die seit ein Uhr nachts auf dem Gelände gewütet und viele Unterkünfte zerstört haben. Mehrere Bewohner hatten aus Protest gegen die Räumung ihre Hütten angezündet. Flammen und Rauch treiben diejenigen, die ohnehin eines der staatlichen Aufnahmezentren ansteuern wollen, früher aus dem Camp.

Nach Sonnenaufgang bietet sich ein drastisches Bild. Vom Sandwall aus, der den Beginn des Dschungel markiert, sind überall kleine Rauchsäulen zu sehen. Aus der Asche ragen Bretter und Planen heraus, dazwischen liegen verkohlte Gegenstände. Von vielen Hütten sind nur noch kahle Gerippe übrig. Dahinter hängt eine schwarze Rauchwolke über der Szenerie, es riecht nach verbranntem Plastik, anderen Kunststoffen, Holz. Unter der Rauchwolke lodert das nicht völlig gelöschte Feuer immer mal wieder auf.

Am Vormittag rückt die Feuerwehr vor. Auch bei den separaten Containerbehausungen, in denen nun vorübergehend Minderjährige untergebracht sind, sind Brandherde nur notdürftig gelöscht. In der Nähe hält sich die orange gekleidete Abbruchseinheit auf, die schon am Vortag mit der Demontage begonnen hatte. Inzwischen wird sie von vier Bulldozern begleitet. Die Stelle selbst ist unzugänglich und wird von einer Gruppe der Sicherheitspolizei, bewaffnet und in Kampfmontur, gesichert. Im Hintergrund leeren die Bagger ihren Schaufelinhalt in riesige Container.

„Wir gehen sehr vorsichtig vor und vergewissern uns, dass die Hütten wirklich leer sind“, hatte Patrick Visser-Bourdon kurz zuvor am anderen Ende des Camps erklärt. Den Leiter des Polizeikommissariats Calais sieht man während der Räumung, die offiziell „Operation Bergung“ betitelt ist, immer wieder auf dem Gelände. Ebenso wie Präfektin Fabienne Buccio, die am Vorabend der Presse erklärt hat, man wolle sich bei der Demontage langsam, „Perimeter um Perimeter“, vorarbeiten. Am Mittwoch kündigte sie das Ende des Dschungels noch für den selben Tag an.

Mehrere Bewohner hatten aus Protest ihre Hütten angezündet

Am Montag hatte Bernard Cazeneuve, der französische Innenminister, in einer Erklärung mitgeteilt, dass am Dienstag 1.636 weitere Personen den Dschungel verlassen hätten. Die Gesamtzahl liegt demnach bei 4.014 – rund der Hälfte der beim letzten Zensus der Hilfsorganisationen Registrierten. Laut Cazeneuve sind darunter 772 Minderjährige. 217 Minderjährige mit Verwandten in England seien seit Mitte Oktober dort hingebracht worden.

Genau darauf wartet auch der 16-jährige Afghane, der am nächsten Morgen von einer Erhebung aus mit seinem Handy die rauchende Szenerie filmt. Ein gelbes Band um sein Handgelenk zeugt davon, dass er registriert wurde. Viele seiner Bekannten, sagt er, seien am Vortag ganz offiziell aufgebrochen, durch den Eurotunnel nach England. Wann er selbst an der Reihe ist, weiß er nicht.

Bei den Warteschlangen hat sich unterdessen wieder die Gruppe protestierender Frauen eingefunden, die bereits am Dienstag für eine schnelle Aufnahme in Großbritannien demonstrierte. Erneut sind es vor allem äthiopische und eritreische Frauen, begleitet von einigen Kindern. „Wo sind die Menschenrechte?“, rufen sie und fordern, dass auch volljährige Migranten den Kanal in Sicherheit überqueren können sollten. Die Frauen, erklärt eine, seien in dem ehemaligen Ferienheim am Rand des „Dschungels“ untergebracht. Ihre Bewegung wächst. Waren es am ersten Tag noch 20, so demonstrieren jetzt um die 100 Frauen.