ZEIT.ORTE

Jana Janika Bach, Jahrgang 1983, gebürtige Berlinerin, freie Autorin, schreibt u. a. für die taz, die Berliner Zeitung und Deutschlandradio Kultur. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt. In die Fremde zieht es sie dennoch immer wieder.

Die Welt auf Atlas’ Schultern

Jana Janika Bach, Jahrgang 1983, gebürtige Berlinerin, freie Autorin, schreibt u. a. für die taz, die Berliner Zeitung und Deutschlandradio Kultur. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt. In die Fremde zieht es sie dennoch immer wieder.

Jana Janika Bach

Nichts zu sehen, was sich gegen den blank geputzten Himmel abzeichnet. Bis auf den Engel. Viel Verkehr im Durchzug, aus allen Windesrichtungen zulaufend. Ein gewöhnlicher Donnerstagnachmittag am großen Stern.

Einmal haben sie die Else schon umrundet. Er, sie um gut anderthalb Köpfe überragend und einige Schritte hinter ihr, obwohl er sie mit einem Satz überholen könnte, sie, zügig vorweg mit dem iPhone in der Hand. An jeder Straßenecke ein und dasselbe Hinweisschild: Zur Siegessäule. „Pure Bosheit ist das“, er klopft gegen Pfeiler. An einer der Zufahrten sind sie zum Stehen gekommen. Auch jetzt wieder die Lippen spöttisch. Als sähe er an allem auch die lustige Seite. Das Gesicht im Profil, neigend, halb zu- oder abgewandt.

„Laut Google Maps ist es hier irgendwo. Wir haben nur die richtige Einbuchtung verpasst.“ Mit schiefem Kopf im Nacken blickt er zum Engel hoch: „Der kichert über uns. Ganz sicher.“ Es ist nicht sein Vorschlag gewesen, dieses Unterfangen, das Treffen an sich gleichwohl. „Du weißt, dass das ein beschissener Touristenort ist, oder?“ Sie lacht. „Nicht mal die U-Bahn hält hier direkt.“ Er macht einen Armschwenk. Autos, Ampeln, der Kreisverkehr. Umschlossen von dichtem Dunkelgrün. Der Tiergarten. Irgendwo weiter oben, außer Sichtweite, Schloss Bellevue.

„Du hättest mit dem Rad kommen sollen.“ Sie sagt das, obschon sie weiß, dass er Durchreisender ist. Hat schon lange nicht mal mehr den einen Koffer in Berlin, wie er früher gerne die Knef zum Abschied zitierte. Eine Holztafel mit Karte und markiertem Standpunkt verspricht Abhilfe. Schnell ist man sich einig, das Gesuchte befindet sich genau gegenüber. Den halben Stern bringen sie rasch hinter sich. Jede längere Unterhaltung würde bei dem Lärm unangenehm. Ohnehin, sie würden nicht fragen, nach dem Leben auf der jeweils anderen Halbkugel. Sie wissen, sie haben sich lange nicht gesehen.

Viel hatte man nicht ausgetauscht am vergangenen Dienstagabend. Zögerlich die Worte gewählt. Er stand vor der Tür, ein Fotografenjob in der Stadt. Kurzer Aufenthalt. Man hatte sich schon seit Jahren nicht mehr übers Aufkreuzen in der Heimat des anderen informiert.

„Et voilà.“ Nach der Einbuchtung zu Roon liegt Bismarck vor ihnen. Zwei Wiesenquadrate flankieren den Sandweg. „Habe ich mir anders vorgestellt.“ „Ich auch.“ Er hat eine Zigarette gezückt, ohne sie sich anzustecken: „Du kennst das doch?“ Sie zuckt mit den Schultern: „Erinnerungen. Monumental sind die nicht. Das letzte Mal war ich mit meiner Grundschulklasse hier.“

Er bemerkt, dass sie keine Tasche mit sich trägt, nur eine eingerollte Zeitung und die Haare kürzer. Hals und Ohren schmucklos. Noch haben sie die knapp dreißig Meter bis zum Denkmal nicht zurückgelegt, als gäbe es etwas, worauf zu warten wäre. Ein Mann mit Hund passiert den Zugang. Sonst ist niemand vor Ort. Plötzlich fast Stille, Gegenwart zu zweit. Ein gleichzeitiges In-Bewegung-Stzen. Knirschen unter den Schritten.

„Kommt es mir nur so vor oder ist er kleiner als die anderen?“ Sie steckt die Hände ein: „Wer?“ „Na, Bismarck. Ist doch sein Denkmal.“ „Zumindest thront er auf einem Sockel.“ Auch die vier Bronzefiguren zu seinen Füßen hat die Zeit mit einem bläulich grünen Schmelz versehen. In Gold ist die Inschrift verfasst, eingeschrieben in den roten Granit. Bäuchlings nur der Name, hinten: „Dem ersten Reichskanzler, das Deutsche Volk 1901.“

„Lächerlich, wenn das Gebilde nicht so gruselig wäre.“ Sie nickt freudig: „Total.“ „Die Proportionen stimmen einfach nicht.“ „Sie wurde versetzt, die ganze Anlage. Vom Platz der Republik hierher.“

Auf der linken Seite des Unterbaus haben sie Halt gemacht. Die meterhohe Statue über ihnen hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, auf den Beinen ein Buch. Den einen Arm lässt sie über den Kopf der Sphinx hängen. „Dachte zuerst, die sitzt auf einem Kanapee.“

Zur Rechten drückt eine andere Herrscherin mit dem Fuß den Kopf einer Raubkatze zu Boden. Das Maul brüllend aufgerissen. „Wie martialisch.“ „Weißt du, wer das ist? Zepter, Krone, die personifizierte Gerechtigkeit?“ „Vielleicht“, ihre Augen hält sie einen Moment geschlossen, „zu Bismarcks Rücken, das ist Siegfried, der in Schlangenblut badete.“ „Für mich passt das nicht zusammen. Der Reichskanzler und diese Mythen.“ Mit einer routinierten Bewegung hat er die Kamera, die um seinen Hals hängt, zurechtgerückt. „Überhaupt, mir ist nicht ganz klar, was wir hier machen.“ Seine Hand fragend in der Luft, die Augenbrauen hochgezogen. „Du wolltest weder Bar noch Café.“ „Das wäre auch beides unangemessen gewesen.“ „Ich wollte eigentlich nur ihn noch einmal sehen.“ „Wen?“ „Den Atlas.“

Sie deutet auf die vierte Skulptur im Bunde, direkt vor Bismarck, zwischen Sphinx und Raubkatze. „War klar, dass du wieder nur die Namen der Männer kennst.“ „Was für ein Quatsch.“ Eine Krähe hüpft über die Wiese. Den Schnabel tonlos aufgesperrt.

„Also der Atlas hat es dir angetan.“ „Den fand ich schon als Kind faszinierend.“ Sie mustern ihn eingehend. Ein riesiger Leib, das eine Knie auf der Erde. Das rechte Bein angewinkelt, den nackten Oberkörper gekrümmt. Im Nacken die Weltkugel, von den über den Kopf gereckten Armen umschlungen.

„Kannst du sein Gesicht sehen, sein Lebensjahr schätzen?“ „Kaum. Langweilig schön. Alterslos.“ Sie hat sich unter das gesenkte Haupt gestellt: „Er hält die Welt. Die ihm gar nichts gibt. Dazu ist er verdammt.“ „Na und? Wie du sagst, die Welt in seinen Händen. Wonach sollte es ihn da noch verlangen zu greifen?“

„Na, einfach nach etwas anderem. Ob sich seine Wahl lohnen würde, ist dabei unwesentlich. Ihm ist die Freiheit zu entscheiden genommen worden.“ Mit einem langen Schritt hat er die erste Stufe des Granits erklommen: „Dann hätte seine Geschichte eine Wende genommen, weder besser noch schlechter, nur eben anders?“

Bei seinen Worten hat sie etwas zwischen den Fingern klimpern lassen. Wahrscheinlich Münzen oder ihren Schlüssel. Noch immer zu zweit. Die Luft in den Nasen wie die Farben hier: Erde, Laub, Taubenblau.

Etwas fahrig klopft er sich die Hosen ab, findet und zündet die Zigarette an: „Immerhin hat er eine Aufgabe zu erfüllen. Das ist doch nicht das Schlechteste. Zumal, wenn du dabei die Welt im Gleichgewicht hältst.“ „Also bitte, das Morgen verspricht ihm nichts, außer dass es wird wie gestern.“ Der Wind nimmt den Rauch. „Dann hat er viel Zeit zum Träumen. Reisen mit leichtem Gepäck, trotz Kugel auf dem Buckel. Er ist sich sein eigenes Universum.“ „Das soll genügen?“ „Es ist ein Anfang. Wo soll man suchen, wenn nicht bei sich?“ Sie schüttelt den Kopf: „Es ist, als hielte er ein Versprechen ein, dass er selbst gar nicht gegeben hat.“

Kurzes Überkreuzen der Blicke. Es ist das ganze Gesicht, das verrät oder liest, das entziffert werden kann.

Für einige Minuten stummes Dasein mit dem Denkmal. Die Sonne jetzt wie ein milchiger Ball. Hinter dem Gesäß der Raubkatze gut sichtbar die Else. „Komm, wir drehen eine Runde durch den Tiergarten.“ Nur einige Meter sind sie gegangen. Er zuckt zusammen, presst die Kamera auf seine Brust. „Was ist?“ „Ich habe kein einziges Bild gemacht.“