Angelockt und erschlagen

Das Wort Mafia kursierte vorher allenfalls als Witz. „Aber das war kein Witz“,sagt die FreundinDie Freunde von Nikolaus G. fühlen sich an Filme erinnert, in denen Menschen Opfer von fanatischen Spinnern werden

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Es herrscht höchste Sicherheitsstufe an diesem 20. August in Köln. Es ist Sonnabend, der vorletzte Tag des katholischen Weltjugendtages, 4.000 Polizisten sind im Einsatz, um für die Sicherheit des Papstes zu sorgen, des Bundespräsidenten, der anderen Würdenträger, der mehreren hunderttausend Pilger. Am Abend, als der Papst vor den Toren der Stadt mit 700.000 Gläubigen ein Abendgebet abhält, ereignet sich in einem Hotel wenige Minuten vom Dom entfernt ein Mord. Ein Mord, den man ohne Übertreibung mysteriös nennen kann. Zwischen Himmel und Erde mag es Dinge geben, für die es keine Erklärung gibt. Aber ein heimtückisches Verbrechen, bei dem eine Verwechslung ausgeschlossen ist, muss eine Erklärung haben.

In den frühen Abendstunden betritt ein korpulenter Mann das Hotel „Hilton“. Er ist Mitte 30, trägt eine Baseballkappe und eine Golftasche über der Schulter. Er mietet eine Suite für eine Nacht, die kurz vorher telefonisch reserviert wurde. Er spricht hochdeutsch, sagt, dass er seinen Ausweis vergessen habe, bittet, ihm das Anmeldeformular auszufüllen. Seine rechte Hand ist bis zu den Fingerspitzen bandagiert. Er nennt einen falschen Namen, eine falsche Adresse, zahlt bar und geht auf die Suite.

Wenig später kommt Nikolaus G., ein Fotograf aus Berlin, in das Hotel. Der 37-jährige war in der Nähe unterwegs, um Porträtaufnahmen eines Fußballspielers zu machen. Unter dem Vorwand eines Auftrages, so wird es die Polizei später ermitteln, hat ihn ein Unbekannter in die Suite gelockt. Am nächsten Tag ist er tot.

Der Fotograf wurde mit einem Schlagwerkzeug, das vermutlich in der Golftasche des Unbekannten versteckt war, erschlagen. Am 21. August gegen 14 Uhr wurde er bei einer Zimmerkontrolle in einer Blutlache gefunden. Die Mitarbeiter an der Rezeption hatten sich gewundert, dass der Mann, der die Suite gemietet hatte, noch nicht ausgecheckt hatte. Er hatte das Hotel bereits am Vorabend verlassen.

Die Kölner Polizei richtet eine neunköpfige Mordkommission ein, die „MK-Foto“. Sechs Wochen nach der Tat ermitteln die Beamten in alle Richtungen. Dieser Begriff wird verwendet, wenn es keine konkrete Spur gibt. Der Kölner Oberstaatsanwalt Alf Willwacher, Leiter der Kapitalabteilung, sagt: „Es gibt keine heiße Spur, kein erkennbares Tatmotiv, wir schließen nichts aus.“ Fest steht nur, dass Nikolaus G. unter falschem Vorwand ins Hotel gelockt und erschlagen wurde.

Nikolaus G. hatte seiner Freundin und anderen vor seinem Tod am Telefon von einem Porträtauftrag im „Hilton“ erzählt. Er solle Kardinal Lehmann fotografieren. „Aber so richtig Freude kam bei ihm nicht auf“, sagt seine Freundin, „er sagte, dass irgendetwas merkwürdig ist.“ Kurze Zeit später hieß es, er solle am Abend Willy Weber fotografieren, den Manager von Michael Schumacher. Beide sind interessant für den Fotografen, besonders Willy Weber, weil Nikolaus G. seit langem das Formel-1-Rennen in Monte Carlo fotografieren wollte. Die Namen sind Köder, ausgelegt von jemanden, der die Interessen des Fotografen gekannt haben muss. 19.56 Uhr bekam seine Freundin die letzte Nachricht von Nikolaus G. auf ihre Mailbox. „Das ist nicht die Kirchenmafia, sondern die reale Mafia“, hinterließ er. „Er klang alarmiert, es war Angst im Spiel“, sagt die Freundin. „Und er sagte, dass der Auftrag immer skurriler und an eine andere Örtlichkeit verlegt werde.“

Das Wort Mafia kursierte vorher allenfalls als Witz im Leben des Fotografen. Lief der Verkauf von Fotos an Kunstgalerien nicht wie erhofft, sprach er von „der Kunstmafia“, als es hieß, er solle Kardinal Lehmann fotografieren, sprach er von „der Kirchenmafia“. Jargon, mehr nicht. „Aber bei seiner letzten Nachricht war klar, das war kein Witz“, sagt die Freundin. „Daran besteht kein Zweifel.“ Ganz im Unterschied zu den Hintergründen: Die liegen auch für die Freundin absolut im Dunkeln.

Fest steht weiter, dass es kein Raubmord war. Die teure Fotoausrüstung war noch da. Zum Verbleib des Handys des Toten oder einer Auswertung der Funkverbindungen sagt Oberstaatsanwalt Willwacher nichts. Alles deutet darauf hin, dass das Handy mitgenommen wurde, die eingehenden Telefonate nicht zurückzuverfolgen sind. Die Ermittler sind für jeden möglichen Hinweis, die die Freunde geben können, dankbar.

Die Freunde von Nikolaus G. beschleicht wegen der Todesumstände ein unheimliches Gefühl. Deshalb wollen sie ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Der Kopf von Nikolaus G. wurde mit Schlägen so brutal traktiert, als solle seine Identität ausgelöscht werden. Es sieht nach einem Racheakt aus, einer Bestrafung, einer Hinrichtung. Ein Verbrechen, wie man es aus kriminellen Kreisen kennt, in denen es um dunkle Geschäfte geht. Es scheint, dass die Tat von langer Hand vorbereitet wurde. Freunde von Nikolaus G. erzählen von Aufträgen in den Wochen vor seinem Tod, die in letzter Minute abgesagt wurden, gerade so als habe jemand Vertrauen herstellen wollen, damit Nikolaus G. am 20. August ganz sicher ins Hotel kommt. Aber wer? Und vor allem: Warum?

Nikolaus G. hat in Köln Fotografie, in Essen Kommunikationsdesign studiert, er lebte als freier Fotograf in Berlin, zu seinen Auftraggebern gehörten Geo, Mare, Zeit, Spiegel, große Firmen. Er war einer, der seine Aufträge – Reisereportagen, Porträts von Städten, Politikern, Sportlern, Künstlern oder Unbekannten – mit einhundertfünfzig Prozent erfüllte, der subtile Inszenierungen von Ironie in seinen Bildern liebte. Seine Freunde wussten Bescheid über sein Leben, wo er sich aufhielt, welche Aufträge er gerade hatte, was er plante, ob es ihm gut ging, er verliebt war oder Liebeskummer hatte. Sie sagen, dass er gar keine Zeit hatte, ein Doppelleben zu führen. Jetzt erschreckt sie die Vorstellung, dass es etwas gegeben haben könnte, das ihnen verborgen geblieben ist. Wie sonst sollen sie sich seinen Tod erklären, zumal ausgeschlossen werden kann, dass er Opfer einer Verwechslung wurde. Bereitwillig geben sie der Polizei Auskunft, doch sie können keine wirklich hilfreichen Angaben machen. Aber sie können ein realistisches Bild ihres Freundes zeichnen. Und sie können den Boulevardblättern etwas entgegensetzen, die von Nikolaus G. als „dem Berliner Promifotografen“ schreiben und fragen, ob er Opfer „der Kunstmafia“ wurde.

Nach seinem Tod bekommt das Wort Mafia plötzlich eine andere Bedeutung. Die Beamten fragen im Umfeld des Toten, der in der Kunstszene ebenso unterwegs war wie in der Sportszene, ob er Kunstgegenstände fotografiert, mit der Rückgabe von Beutekunst zu tun gehabt habe. Nikolaus G. war mit einem Kunsthändler befreundet, der sich darauf spezialisiert hat, nach dem Verbleib von Beutekunst zu suchen und mögliche Erben ausfindig zu machen. Nikolaus G. hat ihn oft an seinem Wohnort in Monte Carlo besucht. „Ich habe mit verschollenen Kunstwerken zu tun, nicht mit Phantomen“, sagt der Kunsthändler.

Die Ermittler haben wenige Anhaltspunkte: Es gibt Videoaufnahmen des Mannes, der die Suite im „Hilton“ gemietet hat. Eine Überwachungskamera hat ihn beim Betreten des Hotels gefilmt. Doch er dreht sich von der Kamera weg, zudem verdeckt die Baseballkappe einen Teil des Gesichts. Die Veröffentlichung der Videoaufnahme und die Anfertigung eines Phantombildes brachte ein weiteres Puzzlestück: Wenige Stunden zuvor hat der Unbekannte in einem Kölner Sportgeschäft mit einem anderen Mann zwei Baseballkappen und eine Golftasche gekauft. Auch von dem zweiten Mann wurde eine Phantomzeichnung angefertigt. Brauchbare Hinweise gingen nicht ein.

Seit Nikolaus G. tot aufgefunden wurde, lassen die, die ihn gut kannten, die letzten Monate Revue passieren. Hat er irgendwann etwas erzählt, was jetzt von Bedeutung sein könnte? Vor einigen Monaten erwähnte er einen befreundeten Kunsthändler aus Braunschweig, der vor einem halben Jahr tot in seiner Wohnung gefunden wurde. Für die Polizei stand ziemlich schnell fest, dass sich der Mann erschossen hat. Nikolaus G. glaubte nicht an Selbstmord. Der Braunschweiger Kommissar, der den Fall untersuchte, sagt: „Damals gab es keine Zweifel daran und jetzt auch nicht.“

Ein Galerist erinnert sich an ein Bild einer Porträtreihe aus der libanesischen Hauptstadt Beirut von 1997/98, das er unbedingt in einer Ausstellung zeigen wollte. Doch Nikolaus G. habe entschieden abgelehnt, weil der Porträtierte, ein Waffenhändler, das nicht gewollte habe. Der Galerist verwirft den Gedanken. Denn schließlich wurde das Bild nicht gezeigt.

Die Freunde von Nikolaus G. telefonieren miteinander, sie treffen sich, sie haben Träume, in denen ihnen Männer erscheinen, die Schilder mit Phantombildern tragen. Sie haben aberwitzige Fantasien und fühlen sich an Filme erinnert, in denen Menschen Opfer von fanatischen Spinnern oder von Zufallsgeneratoren werden. Mit jeder neuen Befragung erscheint ihnen der Mord seltsamer. So fragten die ermittelnden Beamten kürzlich nach einem Lars Rodenstock. Unter diesem Namen hat sich der mutmaßliche Täter im Hotel eintragen lassen. Einigen Freunden sagt der Name gar nichts, andere denken an den Brillenfabrikanten Rolf Rodenstock, der Kunsthändler denkt an Inge Rodenstock, die Witwe des 1997 verstorbenen Brillenfabrikanten, eine der wichtigsten Kunstsammlerinnen in Deutschland.

Warum ausgerechnet dieser Name? Wurde er auch Nikolaus G. gegenüber verwendet, um ihn mit einem seriös klingenden Namen anzulocken? Soll eine falsche Spur gelegt werden? Hatte Nikolaus G. doch mit der „Kunstmafia“ zu tun? Die Ermittler halten sich bedeckt. Oberstaatsanwalt Willwacher spricht von Kleinarbeit: Spurensuche am Tatort, Befragung im Umfeld des Toten, Auswertung von Unterlagen aus seiner Berliner Wohnung. Das Übliche bei Delikten, bei denen kein Täter mit dem Messer in der Hand neben der Leiche steht.

Am 1. September wurde Nikolaus G. in Braunschweig beerdigt. Die Polizei ermittelt. Und seine Freunde warten, dass sie das Unerklärliche irgendwann verstehen können.