Reform des Contergan-Gesetzes

Medikamente Der Bundestag ändert heute das Gesetz zur Unterstützung von Contergan-Geschädigten. Diese sind jetzt über 50 Jahre alt – und haben steigende Ausgaben

Ski laufen: das sollen 1968 Contergan-geschädigte Kinder lernen Foto: Hanns Hemann/dpa/picture alliance

aus berlin Simone Schmollack

Die Besuchertribüne auf der Empore im Bundestag ist so voll wie selten. An einem Tag Ende November sitzen dort Menschen, die keine oder zu kurze Arme haben. Keine Ohren oder keine Beine. Bei denen Finger an den Schultern angewachsen sind. Es sind Opfer des sogenannten Contergan-Skandals in den 1960er Jahren.

Sie wollen als Geschädigte live dabei sein, wenn der Familienausschuss des Bundestags über sie und ihre Belange verhandelt. Seit Jahren kämpfen Contergan-Opfer um mehr Geld: höhere Renten, Sonderzahlungen für umgebaute Autos, spezielle Rollstühle. Sie wollen endlich eine Entschädigung für ein Leid, an dem der Staat nicht ganz unschuldig ist.

Manche hieven dicke Papierstapel auf ihren Schoß: den Gesetzentwurf für das Vierte Gesetz zur Änderung des Contergan­stiftungsgesetzes, das der Bundestag an diesem Donnerstag beschließen will und das am 1. Januar in Kraft treten soll. Das Papier von Union und SPD mit dem sperrigen Titel empfinden Contergan-Opfer als Affront: Wieder wird ihnen Geld vorenthalten, das sie dringend brauchen, um ihren Alltag menschenwürdig organisieren zu können.

Unten im Saal 3.101 haben Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien Platz genommen. Ihnen gegenüber sitzen Sachverständige: Juristen, ein Gerontologe, eine Sozialpädagogin, manche selbst geschädigt. Sie wurden mit schweren Fehlbildungen geboren, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft das von dem Pharmaunternehmen Grünenthal in Stolberg bei Aachen hergestellte und millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel Contergan eingenommen hatten. Manche Frauen hatten nur eine einzige Tablette geschluckt.

Die PolitikerInnen wollen von den Sachverständigen wissen, was diese zum Gesetzentwurf zu sagen haben. Es geht um viel: Um den Rest des Lebens von Contergan-Opfern. Und um einen politischen Skandal.

Vor über 50 Jahren, als klar war, dass der in dem Beruhigungsmittel enthaltene Wirkstoff Thalidomid für die Schädigungen verantwortlich ist, glaubten Verantwortliche – die Firma Grünenthal und PolitikerInnen –, die etwa 5.000 bis 10.000 betroffenen Babys würden nicht lange leben. Damit hätte sich das „Problem Contergan“ rasch selbst erledigt. Aber viele der Kinder von damals leben auch heute noch, sie sind mittlerweile über 50 Jahre alt. Und sie müssen nicht nur mit ihren Behinderungen umgehen, sondern vor allem mit deren Folgeschäden.

Wer jahrzehntelang mit den Füßen greifen, schreiben und essen muss, hat irgendwann eine deformierte Wirbelsäule. Wer wegen der unterschiedlichen Länge seiner Beine jahrzehntelang humpelt, bekommt alsbald Schmerzen in der Hüfte.

Einer, der über ein solches Leben Auskunft geben kann, ist Christian Stürmer, 55, Vorsitzender des Contergannetzwerk Deutschlands, einer Betroffenenorganisation. Der Familien­ausschuss hat den Juristen als Sachverständigen aus Ostfildern, wo er wohnt, in den Bundestag nach Berlin geholt. Hier erklärt er an seinem eigenen Beispiel, wie es den in die Jahre gekommenen Contergan-Opfern geht. Stürmer hat zwei Beinprothesen, er sitzt viel im Rollstuhl. Er wohnt in einem dreistöckigen Reihenhaus, auf Krücken hangelt er sich mühsam die Treppen hoch und runter. Der Rollstuhl bleibt auf einer Etage stehen.

„Ich habe einen zweiten Rollstuhl beantragt“, sagt Stürmer: „Mein Antrag wurde abgelehnt. Mit der Begründung, ich hätte schon einen.“

Die Abgeordneten hören schweigend zu. Es ist anzunehmen, dass sie sich vorstellen können, wie kompliziert ein Alltag sein kann, wenn man verkürzte oder gar keine Gliedmaßen hat. Und trotzdem verhindern PolitikerInnen, dass das Leben von Menschen wie Christian Stürmer leichter wird – durch Gesetze wie jenes, über das sie heute verhandeln. So jedenfalls sehen das die Opfer.

Um zu verstehen, was Betroffene wie Stürmer an dem aktuellen Gesetzentwurf kritisieren, muss man an den Anfang des Contergangstiftungsgesetzes zurückgehen. Im Dezember 1971 beschließt der Bundestag, für die Contergan-Opfer eine Stiftung zu gründen, nachdem sich die Firma Grünenthal und Eltern geschädigter Kinder in einem aufreibendem Prozess 1970 auf einen Vergleich geeinigt haben: Grünenthal zahlt den Opfern einmalig 100 Millionen Mark. Das Geld fließt in eine Stiftung, das dafür nötige Gesetz nennt sich „Errichtungsgesetz“.

Die Stiftung, die sich 1972 unter dem Namen „Hilfswerk für behinderte Kinder“ gründet und später in Conterganstiftung umbenannt und unter die Aufsicht des Familienministeriums gestellt wird, zahlt die Renten der Opfer. Aber bald ist klar: Das Geld reicht nicht. Der Bund stockt im Laufe der Jahre den Betrag um weitere 220 Millionen Euro auf. Doch auch diese Summen sind bald aufgebraucht. Ab 1997 bezahlt der Bund die Leistungen. Die monatlichen Renten betragen damals 120 bis 550 Euro.

Wie soll jemand wie Christian Stürmer von diesem Geld leben? Wie teure Physiotherapien bezahlen, wenn nicht einmal die Miete gedeckt ist? Wie Medikamente, den Umbau eines Badezimmers finanzieren, wenn auch Kranken- oder Rentenkassen solche Kosten nicht übernehmen?

Der Bundestag reagiert. Die Renten werden zunächst verdoppelt, später erneut erhöht, am Ende sind sie siebenmal so hoch. Das Stiftungsgesetz wird umgeschrieben, mehrfach verändert, das Stiftungsvermögen immer wieder aufgestockt: finanziert vom Bund, der Firma Grünenthal und durch Spenden. Seit 2013 stellt die Stiftung jedem Opfer jährlich 20.000 Euro für individuelle „Bedarfe“ zur Verfügung: für Gehhilfen, Therapien, Matratzen. Insgesamt 30 Millionen Euro.

Wo also ist das Problem?

Seit Jahren kämpfen Contergan-Opfer um mehr Geld

Anträge auf ­medizinische ­Hilfsmittel werden häufig abgelehnt

Die Stiftung hat zwar das Geld, klagen die Betroffenen: Aber sie will es uns nicht geben. Anträge auf medizinische Hilfsmittel, Therapien, Assistenzen würden häufig abgelehnt, vielfach willkürlich. Sein Antrag auf einen zweiten Rollstuhl, sagt Stürmer, sei nach Gutdünken zurückgewiesen worden.

„Das Geld kommt bei den Opfern nicht an“, sagt Stürmer. Von den 30 Millionen Euro Stiftungsvermögen wurden bislang nur 3 Millionen abgerufen. Das ist ein Problem, finden auch Union und SPD. „Wir bemühen uns, fair und richtig für Sie zu entscheiden“, sagt Paul Lehrieder (CSU), Vorsitzender des Familienausschusses.

Jetzt soll das Gesetz wieder geändert werden. Anstelle der bislang „individuell bedarfsdeckenden Leistungen“ in Höhe von jährlich 20.000 Euro sollen die Geschädigten künftig eine Pauschale bekommen: einen „Sockelbetrag“ von 4.800 Euro für jedes Opfer, und zusätzlich für die „Deckung spezifischer Bedarfe“, je nach Schädigungsgrad, individuell zwischen 900 und 10.000 Euro. Höchstens rund 15.000 Euro. Also weniger als vorher.

Eine Lösung, die das Fami­lienministerium für gerecht hält. „Die Betroffenen können jetzt selbst über die Verwendung der Mittel entscheiden“, sagt eine Sprecherin zur taz.

Es ist dunkel im Regierungsviertel, als die Anhörung zu Ende geht. Stürmer und die anderen Betroffenen fahren mit gemischten Gefühlen nach Hause. Manche sind wütend. Andere einfach nur müde.

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