„Gott, wie war ich drauf!“

Die Schriftstellerin Anne Hahn erzählt in ihrem ersten Roman von ihrer DDR-Jugend und der Nachwendezeit – davon, wie man mit Wut im Bauch in einem Land lebt, in dem man sich nicht wohl fühlt, aber auch von Freundschaften, Opfern und Karrieren

VON ANNE KRAUME

Beim Spielen erzählt ihr sechsjähriger Sohn Artur manchmal den anderen Kindern: „Meine Mama hat in der DDR im Gefängnis gesessen!“ Und so ist es ja auch gewesen, damals, 1989, in den Monaten kurz vor der Wende. Wenn Anne Hahn ihrem Sohn aber zufällig dabei zuhört, wie er seinen Spielkameraden ihre Geschichte weitererzählt, dann denkt sie an verschiedene Dinge. Daran, dass für ihn die DDR so sehr Geschichte ist wie für sie selbst als Kind die Zeit des Nationalsozialismus. Daran, dass es wichtig ist, bewusst mit seinen Erinnerungen umzugehen. Daran, dass sie mit Artur immer über alles sprechen will, über die Geschichte und die Erinnerungen und die Gegenwart. Und manchmal fragt sie sich auch, was für ein Verhältnis sie selbst eigentlich zu ihrer eigenen Vergangenheit hat.

Eine Antwort auf diese letzte Frage gibt jetzt ihr erster Roman, in dem Anne Hahn, die 1966 in Magdeburg geboren ist und heute als freie Autorin in Berlin lebt, einen großen Teil dieser Vergangenheit verarbeitet: „Der Stoff war da, er hat lange in mir gegärt und irgendwann musste er einfach raus“, sagt sie. Und so erzählt „Dreizehn Sommer“ die Geschichte von den drei Freundinnen Nina, Mo und Kathrin, die gemeinsam in Magdeburg aufwachsen, zur Schule gehen und ins Zeltlager fahren, deren Wege sich trennen und kreuzen und wieder trennen. Über die dreizehn Sommer hinweg werden die drei Freundinnen erwachsen, während das alte System durch ein neues ersetzt wird, und sie alle drei gehen unterschiedlich mit ihren Erfahrungen um und mit denen ihres Landes.

Während Kathrin sich über Nacht von der überzeugten Parteigängerin zur angepassten Nachwende-Karrieristin wandelt, wird die stille traurige Mo immer stiller und trauriger und zieht sich zurück. Im Mittelpunkt aber steht Nina, von der Anne Hahn sagt, sie sei diejenige von ihren Figuren, die am meisten mit ihr selbst teile. Nina revoltiert gegen die Verhältnisse in der DDR, sie sucht die Nähe von Freunden, denen es ähnlich geht, sie debattiert und trinkt, organisiert Punkkonzerte und versucht, den trüben Alltag mit diesen bunten Mitteln der Anarchie zu bewältigen. Als das endlich scheitert, entschließt sie sich zur Flucht, wird geschnappt und erlebt die Wende im Stasigefängnis Hohenschönhausen.

Aus diesen Versatzstücken setzt sich tatsächlich auch die Geschichte der Schriftstellerin Anne Hahn selbst zusammen. Wie ihre Protagonistin hat Anne Hahn damals versucht, von Baku aus über den Kaukasus nach Westberlin zu fliehen, wie diese saß sie im Gefängnis, als die Wende kam. Wie Nina hat Anne Hahn in den Jahren danach die Freiheit erprobt, hat einige Monate in Westdeutschland gelebt und ist durch Europa gereist. Wie Nina entschloss sie sich dann, zurück in den Osten zu gehen, und wohnte jahrelang in Prenzlauer Berg am Kollwitzplatz. „In den ersten Monaten im Westen war alles so frei und offen und wunderschön – aber der Osten hat mir doch gefehlt“, sagt sie heute. Die Jahre unmittelbar nach der Wende erlebt sie als „explosiv und aufgeregt“: Sie studiert Kunstgeschichte, liest, organisiert mit Freunden Lesungen und Performances und wundert sich heute manchmal, dass alles so viel „ängstlicher und bedachter“ geworden ist.

In den zwei Jahren, in denen Anne Hahn an ihrem Roman gearbeitet hat, sei sie sich über viele Dinge klarer geworden, erzählt sie. Sie habe beim Schreiben ihre Geschichte in Gedanken noch einmal erlebt und sie dabei manchmal auch mit den Augen anderer gesehen. Vielleicht dadurch, dass sie in ihrem Buch nicht nur eine autobiografische Identifikationsfigur entwirft, sondern dass sie ihre eigenen Anlagen und Möglichkeiten gewissermaßen auf die drei Protagonistinnen verteilt: „Man fragt sich dann schon: Wie könnten mich die Leute erlebt haben, wie hat das damals vielleicht gewirkt, wie hätte diese Geschichte anders ausgehen können?“

Auch bei anderen Leuten hat ihr Roman wohl diese leichte Verschiebung der Perspektiven bewirkt. In Magdeburg kam kürzlich nach einer Lesung eine Bekannte auf sie zu, die ihr sagte, dass sie erst jetzt diejenigen verstehen könne, die damals aus der DDR geflohen seien – früher und auch die Jahre nach der Wende sei die Flucht für sie Desertion gewesen. Anne Hahn selbst sagt dazu, damals in ihrem Magdeburger Freundeskreis hätten sie in Gedanken alle Möglichkeiten durchgespielt: Soll man gehen, muss man bleiben, darf man in die Partei eintreten, wenn man glaubt, auf diese Art etwas von innen verändern zu können? Als sie davon erzählt, lacht sie: „Spätestens wenn die Leute, die aus den Strukturen der Partei heraus etwas bewegen wollten, dann ihr erstes Parteiverfahren hinter sich hatten, waren sie realistischer!“ Andererseits könne sie heute die Haltung derer nicht verstehen, die sich nur noch als Opfer des Systems sehen. „Ich selbst sehe mich nicht als Opfer, sondern als Handelnde.“

Wenn sie heute die Anne Hahn von damals betrachte, sagt sie, dann erschrecke sie manchmal: „Gott, wie war ich drauf?“ Aber dann sehe sie die Jugendlichen heute, „die nur vollgepumpt in irgendwelchen Clubs rumhängen und die überhaupt keine Wut mehr im Bauch haben – und das ist ja noch erschreckender!“. Durch die Terrassentür von Anne Hahns Wohnung in Mitte blickt man ins Grüne und in den Regen.

Anne Hahn sitzt auf dem dunklen Ledersofa gegenüber, achtet auf nichts außerhalb und redet sich in Begeisterung: „Die Frage ist ja immer: Wie verhalte ich mich in einem Land, in dem ich mich nicht wohl fühle?“ Weil er diese allgemeine Frage aufwirft, ist Anne Hahns Roman mehr als nur ein weiterer Wenderoman. Nina im Roman liebt Klaus Mann und stellt sich vor, mit ihm in Paris, New York oder Nordafrika unterwegs zu sein. Auch diese Liebe teilt sie mit der Autorin Anne Hahn, für die Klaus Mann im Laufe der Zeit vor allem wegen seiner von Anfang an unmissverständlichen Ablehnung des Nationalsozialismus immer mehr zum Vorbild geworden ist. Früher, sagt Anne Hahn, habe sie sich oft die Frage gestellt: „Wie hätte ich mich damals in der Nazizeit verhalten?“ Womöglich ja ebenso entschlossen, wie sie es 1989 mit ihrer Flucht aus der DDR getan hat.

Anne Hahn: „Dreizehn Sommer“, SchirmerGraf Verlag, München 2005, 336 Seiten, 19,80 €