Anschlag in Berlin

Niemand sollte versuchen, die Tat für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren, sagt der Justizminister. Und was geschieht?

„Man muss genau hinschauen“

SICHERHEIT Der Linkspartei-Politiker und ehemalige Kriminalpolizist Frank Tempel über die Risiken einer allgemeinen Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen

Frank Tempel

Foto: Die Linke

47, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag, Leiter des Arbeitskreises V (Demokratie, Recht und Gesellschaftsentwicklung) und drogenpolitischer Sprecher der Fraktion. Bis 2009 arbeitete er als Kriminalbeamter.

Interview Ulrich Schulte

taz: Herr Tempel, die Linke steht Videoüberwachung traditionell kritisch gegenüber. Ist es an der Zeit, diese Haltung zu überdenken?

Frank Tempel: Nein. Wir haben keinen Grund, unsere Skepsis gegenüber mehr Überwachung abzulegen. Ich halte nichts davon, übereilte Vorschläge mit zweifelhaftem Nutzen in den Raum zu werfen, nur um zu demonstrieren, dass man etwas tut.

Bestreiten Sie den Nutzen von Kamerabildern bei der Aufklärung? Hätte die Polizei Bilder des Täters vom Breitscheidplatz, würde sie ihn leichter finden.

Das mag sein. Aber wer sagt Ihnen, dass eine Kamera auf dem Platz diese Bilder geliefert hätte?

Hätte sie nicht?

Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der seine Tat wahrscheinlich sorgfältig geplant hat. Um einen so großen Lastwagen so gezielt in eine Menschenmenge fahren zu können, muss man Ortskenntnisse haben. Der Täter wusste offenbar, wie die Straßen verlaufen, wie die Hütten auf dem Weihnachtsmarkt stehen, wo sie eine ausreichend breite Gasse bilden. Ein Täter, der seine Tat genau plant, informiert sich auch über Kameras – und findet Wege, unerkannt zu bleiben.

Bilder aus Videoüberwachung haben bisher immer wieder zu Festnahmen geführt.

Es gibt dazu empirische Erhebungen, zum Beispiel aus Großbritannien, wo der öffentliche Raum viel stärker überwacht wird als bei uns. Der Nutzen der Videoüberwachung wird überschätzt. Wenn zum Beispiel auf einem großen Platz Kameras aufgestellt werden, weichen die Kriminellen aus. Es gibt also Verdrängungseffekte. Sie rauben ihr Opfer nicht mehr im Blickwinkel der Kamera aus, sondern passen es in einer Nebenstraße ab. Oder die Täter wenden sich von der Kamera ab, verbergen ihr Gesicht, vermummen sich. Bei den Attacken im Kölner Hauptbahnhof an Silvester hatten sich viele Angreifer Schals über die Gesichter gezogen.

Rechtfertigen es diese Beobachtungen, die Erfolge zu ignorieren? Der Mann, der einer Frau in einem Neuköllner U-Bahnhof in den Rücken trat, wurde auch durch Videobilder gefasst.

Natürlich, man muss genau hinschauen. Diese Debatte endet nie, sie passt sich geänderten Realitäten an, und das ist gut so. Ich plädiere nur dafür, jeweils den realen Nutzen und die Nachteile gegeneinander abzuwägen. In Bahnhöfen oder Kaufhäusern sind Kameras zum Beispiel sinnvoll. Das sind begrenzte Räume mit klar zu definierenden Gefahrenpunkten. Aber um Tat und Fluchtwege von Terroristen in Berlin zu dokumentieren, müsste ich die ganze Stadt mit Kameras pflastern. Wollen wir das?

Würde es die Menschen wirklich stören? Innenpolitiker aus der Union sagen, dass dies das Sicherheitsgefühl erhöhen würde.

Das glaube ich nicht. Ich fühle mich nachts in einem U-Bahnhof nicht sicherer, weil da eine Kamera hängt. Es geht bei Videoüberwachung immer um einen Balanceakt. Der reale Nutzen steht dem Recht jedes einzelnen auf Privatheit gegenüber. Und die Politik muss beides gegeneinander abwägen. Ich halte es für ein hohes Gut, dass man in einer deutschen Stadt unerkannt durch die Fußgängerzone oder durch den Park gehen kann. Welches Hobby man hat, mit wem man unterwegs ist, wie müde man am Montagmorgen aussieht, das geht den Staat nichts an.

Sie waren Kriminalbeamter, bevor Sie 2009 in den Bundestag kamen. Waren Sie damals bei Ihrer Arbeit froh, Bilder aus der Videoüberwachung zu haben?

Klar. Ich habe zum Beispiel bei Raubdelikten in Kaufhäusern ermittelt. Da waren Bilder des Täters, die Kameras aufgezeichnet hatten, natürlich hilfreich.

Das beeinflusst Ihre politische Haltung aber nicht?

Ein Polizeibeamter will natürlich die bestmöglichen Mittel in die Hand bekommen, um seinen Job gut zu machen. Das ist sein gutes Recht. Als Politiker habe ich eine andere Rolle. Ich muss eine Rechtsgüterabwägung vornehmen. Vertragen sich die Wünsche des einzelnen Polizisten mit Grundrechten anderer Bürger? Und da sage ich: Die Linke bleibt auch nach dem Anschlag in Berlin bei ihrem Nein zu Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen.

Haben eigentlich Ihre ehemaligen Kollegen Verständnis für Ihre Zweifel?

Sagen wir es so: Ich führe immer wieder lebendige Diskussionen mit Polizistinnen und Polizisten.

Das heißt übersetzt: Die allermeisten finden Ihre Position grundfalsch.

So weit würde ich nicht gehen. Aber ja, die Kritik überwiegt.

Auf Facebook geben die Deutschen täglich Intimes von sich preis. Ist es angesichts dessen nicht etwas anachronistisch, gegen Kameras zu wettern?

Auf Facebook bestimmt jeder selbst, was er veröffentlicht. Ich kenne viele Menschen, die sehr genau darauf achten, was sie in sozialen Netzwerken posten und wer das einsehen darf. Zeigefreudigkeit auf Facebook ist also ein freiwilliger Akt. Bei Kameras im öffentlichen Raum wäre das anders. Da bestimmt der Staat, was er von uns sieht.

Aus der CSU kam die Uraltforderung, die Bundeswehr müsse im Inneren eingreifen dürfen …

Wie gesagt, ich sprach von der Mehrheit in der Bundesregierung. Die CSU ist ein anderer Fall. Sie nutzt die fürchterliche Tag, um sich maximal zu profilieren – obwohl die Faktenlage nach wie vor dürftig ist. Sollen jetzt Soldaten Weihnachtsmärkte schützen? Wenn ein Bäcker einen Großauftrag über Tausende Brötchen bekommt, stellt er ja auch keine Metzger ein.