WahlfrauIn ihrer Jugend baute die Marxistin Erika Maier die DDR mit auf, morgen wählt die Linke-Politikerin den Bundespräsidenten. Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter
: „Oh Gott, Mutti“

Anja und Erika Maier auf Mutters Sofa. Über ihnen ein Porträt des SPD-Gründervaters August Bebel, ein Erbstück der Vorfahren, den Rahmen hat der Urgroßvater gebaut. Nach dem Krieg steckte Stalin darin. Aber nur kurz

Von Anja Maier
(Gespräch)und Lia Darjes (Foto)

Anja Maier: Du bist Wahlfrau für die Wahl des Bundespräsidenten. An diesem Sonntag ist es so weit. Hebt dich das irgendwie an?

Erika Maier: Oh Gott. Ich bin eigentlich uneitel in solchen Sachen. Natürlich war ich überrascht, als die Landesvorsitzende der Berliner Linken mich gefragt hat. Aber dann habe ich gedacht, na ja, warum denn nicht.

Als junge Frau hast du nach dem Ende des Krieges versucht, ein demokratisches Land mit aufzubauen. Die DDR. Und jetzt, mit achtzig Jahren, wählst du das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Wunderst du dich nicht darüber?

Nö. Gar nicht.

Gar nicht?

Ich wundere mich natürlich, dass ich in diese Garde reingerutscht bin. In die Bundesversammlung werden bekannte Persönlichkeiten gewählt. Also Schauspieler, Spitzensportler, Schriftsteller und so. Alles das bin ich nicht. Kein Mensch außerhalb von Marzahn-Hellersdorf, vielleicht aus der Berliner Politik, kennt mich. Aber dein Vater und ich, wir sind immer aktive Menschen gewesen. Wir haben uns auch nach 1990 nicht in die Ecke gesetzt. Und insofern wundert mich das nicht. Ich werde ja nicht Herrn Steinmeier wählen, ich bleibe also meinen politischen Überzeugungen treu.

Was sagt es über dieses Land, dass eine Marxistin den Bundespräsidenten wählen darf?

Das finde ich fair. Das wäre in der DDR nicht so gewesen. Und ich habe das, seit ich in diesem Land politisch mitgemischt habe, oft gedacht und gesagt: Es ist ein Phänomen, dass ich hier Politik machen kann. Ich komme ja sozusagen von der anderen Seite.

Vierzig Jahre war dieser Staat, die Bundesrepublik, dein politischer Gegner. Als die Mauer fiel, wurdest du Bürgerin dieses Landes. Und dieses Land hat dich umstandslos aus dem Hochschuldienst entlassen. Du warst 53 Jahre alt, so alt wie ich heute. Kannst du dich an diese Frau noch erinnern?

Ja, sehr gut. Das war erst einmal eine schreckliche Niederlage. Dein Vater und ich standen praktisch vor dem Nichts. Wir waren eigentlich noch in dem Gefühl, dieses Leben ist unseres. An Rente oder aufhören hatten wir nie gedacht. Ich wurde anderthalb Jahre nach dem Mauerfall entlassen, mit dem Hinweis, ich bräuchte mich nicht mehr im öffentlichen Dienst zu bewerben. Damit war das, was ich dreißig Jahre gemacht hatte, perdu. Insofern stand nach einer Phase des Schreckens, der Besinnung, auch der Enttäuschung die Frage: Was bleibt jetzt, als zu handeln?

Was hast du gemacht?

Erst mal bin ich zum Steuerlehrgang gegangen. Den hatte mir das Arbeitsamt angeboten. Das hat mir nicht geschadet, ich mache noch heute meine Steuererklärung selbst. In den letzten Monaten an der Hochschule habe ich dann mit Kollegen für das noch existierende Schuh-Kombinat eine Marktanalyse gemacht. Ich bin bis heute überzeugt, das war ein wirklich lebensfähiges Konzept. Der osteuropäische Markt, den später Adidas und Puma übernommen haben, wäre eine Chance für die Schuhindustrie der neuen Bundesländer gewesen. Die DDR stellte relativ grobes Schuhwerk her, im Vergleich zu den feinen italienischen Schuhchen …

… aber die Ostler wollten keine Ostschuhe mehr.

Das war mir klar. Ich habe anfangs auch keine Zahnpasta aus dem Osten gekauft. Das war so ein spannendes Gefühl damals: Was kaufe ich denn jetzt, was ist richtig? Das war plötzlich solch eine Vielfalt. Wir hatten immer Rot-Weiß, und plötzlich: zehn Sorten Zahnpasta. Herrgott noch mal. Und das war so in jeder Hinsicht. Wir standen dem ziemlich hilflos gegenüber. Das konnte man ja keinem übel nehmen, wenn er das Neue haben wollte. Aber ich bleibe dabei, der osteuropäische Markt wäre eine gute Grundlage für die Schuh­industrie gewesen.

Als Person – was hat dich damals hoffen lassen? Was ist in deiner Persönlichkeit angelegt, dass du gesagt hast: „Weiter“?

Das war der schlichte Erhaltungstrieb. Hoffnung war das eher nicht. Stell dir vor, wir haben sogar überlegt, ob wir bei uns hier im Partykeller ein ­Lokal aufmachen.

Oh Gott, Mutti.

Ja. Ich hab gedacht, Knödel, Gulasch und Rouladen werden immer gern gegessen. Heute wäre das vermutlich eine sehr coole Idee. (lacht) Wir haben auch überlegt, ob wir das Haus vermieten und uns hinten in den Garten einen Bungalow stellen. Es musste ja irgendwie weitergehen.

Du hast mir damals geraten, mir als Alleinerziehende einen festen Job zu suchen und mich gut daran festzuhalten. Was hast du befürchtet?

Wir wussten, wir können die Kleine und dich nicht auffangen, nicht in unserer Lage. Ihr hättet bei uns wohnen können, mehr aber auch nicht.

Letztlich ist ja für meine Generation, für uns drei Kinder, alles gut gegangen. Unser Leben wurde viel freier. Hast du manchmal gedacht: Schade, das hätte ich auch gern gehabt?

Nein. Ich habe so ein erfülltes Leben gehabt, ich möchte nicht tauschen. Man muss sich vorstellen, woher ich komme. Wir waren ganz einfache Leute, ein Facharbeiterhaushalt mit sechs Büchern. Mehr nicht. Dass ich so ein selbstbewusstes, gleichberechtigtes Leben geführt habe mit deinem Vater, das war wunderbar. Auch im Beruf. Ja, da gab es auch Machos. Aber ich war ein munteres Kerlchen und bekam immer Schübe von außen. Nach dem Krieg habe ich die Banklehre gemacht. Die haben mich zum Studium delegiert. Mein Vater, dein Opa, war dagegen, ich sollte Geld verdienen. Nach dem Studium blieb ich an der Hochschule, konnte promovieren und habilitieren. Ich habe viele Jahre ein Institut geleitet, geforscht und gelehrt. Und das mit drei Kindern, die kurz hintereinander kamen.

Klingt ehrlich gesagt ziemlich anstrengend.

Ach weißt du, das war ein erfülltes Leben – wogegen sollte ich das tauschen wollen. Dein Vater und ich hatten Marx studiert, wir hatten uns bewusst für das ärmere, aber für uns sozial gerechtere Land entschieden. Wir wussten, wir werden gebraucht. Dieses Gefühl würde ich den jungen Leuten heute wünschen, die sich von einem Zeitvertrag zum nächsten hangeln müssen. Sind die denn wirklich freier, als wir es waren?

Wieso bist du kein Jammerossi geworden? Du hättest nach der Wende zum Beispiel bei einem dieser Ost-Vereine mitmachen können.

Ich weiß, Linke haben manchmal eine Neigung zum Nein­sagen. Aber so bin ich nicht. Tatsächlich hatte ich keine Phase in meinem Leben, in der ich brachgelegen habe. Als ich nach dem Mauerfall noch anderthalb Jahre an der Hochschule war, habe ich eben diese Schuh-­Studie gemacht. Das war gar nicht mein Themengebiet, aber ich wollte was Konkretes machen. Das war ja immer das, was mir eigentlich gelegen hätte. Daraus hat sich später ergeben, dass ich für den Autohandel Marktanalysen gemacht habe. Und dein Vater hat fürs Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Studien zur Preispolitik der DDR geschrieben. Das hat uns über die ersten Jahre getragen, war unheimlich anstrengend, wir hatten schlicht keine Zeit zum Grübeln. Und das war auch ganz gut so. Die Kneipenidee hatte sich damit ­erledigt. (lacht)

Wie kam es, dass du Mitte der Neunziger in die Politik gegangen bist?

Ab Ende fünfzig bekam ich Altersübergangsgeld, mit sechzig ging ich in Rente. Da waren sechs Jahre seit dem Mauerfall vergangen, in denen ich beruflich unendlich viel versucht hatte. Aber das meiste hat letztlich nicht geklappt. Wir waren einfach zu alt. Wären wir 35 gewesen, wäre unser Leben anders verlaufen. Aber so war das nicht. Und dann, als mit der Rente klar war, ich muss nun nicht mehr für den Lebensunterhalt sorgen, habe ich beschlossen, mich in meinem Bezirk nützlich zu machen.

Was hast du genau gemacht in der Politik?

Ich war für die PDS ab 1995 zehn Jahre lang Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses. Und da konnte ich wirklich was bewegen. Ich habe den Ausbildungs-Oscar erfunden, den gibt’s, glaube ich, immer noch. Wir haben einen Siedlungsverbund gegründet, eine Art regionalen Wirtschaftskreislauf. Ganz nebenbei habe ich die Initiative Helene-Weigel-Platz ins Leben gerufen. Wir haben dort viele Jahre Veranstaltungen gemacht, die Bürger befragt, was sie brauchen. Das ging so weit, dass die Leute bei mir zu Hause angerufen haben, wenn irgendwo der Schnee nicht geräumt worden war. Ich sag dir!

Vor zehn Jahren hast du für deine Arbeit das Bundesverdienstkreuz bekommen. Ich war wahnsinnig stolz auf dich. Ich dachte: Das kann kein schlechtes Land sein, in dem eine Marxistin, eine Oppositio­nelle, vom Staat für ihre Arbeit geehrt wird. Ich fing an, das Land zu mögen.

Erika Maier

Die Person: Geboren 1936 in einem sozialdemokratisch geprägten Dresdner Haushalt. Vater: Drucker, Mutter: Briefträgerin; ein Bruder. Mit acht Jahren erlebt sie die Bombardierung ihrer Heimatstadt. Nach der Schule Banklehre in Dresden, ab 1954 Ökonomie-Studium in Ostberlin. Dissertation 1964, Habilitation 1967, jüngste Professorin der DDR. Heiratet 1958 ihren Kommilitonen Wilfried Maier. Drei Kinder: Andre 1960, Jana 1962, Anja 1965. Bis 1990 Leiterin des Bereichs Politische Ökonomie des Sozialismus/Lehrstuhl Weltwirtschaft an der Hochschule für Ökonomie. 1990 wird sie aus dem Hochschuldienst entlassen, ihr Mann aus dem Staatsdienst beim Amt für Preise.

Der politische Mensch: Eintritt 1956 in die SED. Nach dem Mauerfall weiter Mitglied von SED-PDS, PDS, Linkspartei.PDS, Die Linke. Ab 1995 zehn Jahre lang Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, dafür 2006 Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz. Am 12. Februar ist sie Wahlfrau für Die Linke bei der Wahl des Bundespräsidenten.

Also so weit ist es bei mir nicht gegangen. Ich war immer der Überzeugung, dass ich das Bundesverdienstkreuz bekommen hatte, weil in Berlin Rot-Rot regierte. Es gab einige, die meinten, ich sollte das nicht annehmen. Meine älteste Freundin hat gesagt, sie sei schon immer ­gegen Kreuze gewesen. Ich habe natürlich tief durchgeatmet. Und dann habe ich gedacht: Na ja, hier wird jetzt dein Tun für die Leute anerkannt. Ich habe ja mit meinem Ehrenamt nicht das System geadelt, sondern für die kleinen Handwerker, für Arbeitsplätze, für Lehrstellen gewirbelt. Und dass das anerkannt wurde, fand ich natürlich toll. Aber du hast recht, dass das möglich ist, das ist beachtlich.

Es gibt Erhebungen zum Elitenwechsel in Ostdeutschland. Der Historiker Justus Ulbricht spricht von „Erfahrungen von Entwertung und Verlust“ in den Neunzigern, die in den Familienverbänden nie verwunden wurden und „immer rekapituliert und aufgewärmt“ würden. Warum war das in unserer Familie nicht so?

Genau diese Entwertung, diesen Verlust haben wir, dein Vater und ich, erlebt. Aber ihr drei wart ja als junge Erwachsene an diesem Umwälzungsprozess beteiligt. Wir mussten euch nichts erklären, ihr wart Zeugen dieses Vorgangs.

Viele Ostdeutsche laufen heute Pegida und der AfD hinterher, auch Linke-Wähler. Hast du dafür eine Erklärung?

Ja. Keine Patenterklärung, aber ich glaube, die Ursache dafür liegt in den sich zuspitzenden Konflikten in der Gesellschaft. Das klingt sehr hoch gegriffen, aber ich glaube, es stimmt. Das Schlimme ist, dass das auch international so ist. Die Trump-Wahl oder das Erstarken von Le Pen, das ist alles Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Gesellschaft. Da meine ich nicht nur Arm und Reich, auch wenn das ein ganz wichtiges Thema ist.

… meinst du damit die Obdachlosen, die es auch in Berlin gibt?

Ja, auch die Obdachlosen. Und die Spaltung der Gesellschaft, die Christoph Butterwegge, der Bundespräsidentenkandidat der Linken, als Paternoster-Bewegung bezeichnet. Die einen gehen hoch, die anderen runter. Früher gab es Ulrich Becks Theorie des Fahrstuhleffekts: Alle gemeinsam gehen, wenn auch in unterschiedlichem Tempo, nach oben. Das ist vorbei. Und das erregt Unzufriedenheit. Der andere Aspekt ist der Vertrauensverlust in Politik im Allgemeinen. Ich glaube, es wird zu viel manipuliert in der Meinungsbildung, was man mit dem Volk bespricht und was nicht. Das betrifft auch die Medien.

Ach so, Lügenpresse. Vielen Dank!

Ich meine damit die politische Atmosphäre. Nimm nur, wie Griechenland uns lange beschäftigt hat. Inzwischen weiß keiner mehr, was da vorgeht. Und die Berichte über Syrien oder über die Beziehungen zu Russland. Da haben die Leute das Gefühl, sie erfahren nicht, was wirklich los ist.

Meinst du, so ein Pegida-Demonstrant, der vor der Dresdner Semperoper den Galgen für Angela Merkel in die Luft hält, interessiert sich dafür, wie es den Griechen geht und was in Syrien passiert? Diese Leute stehen doch für Entsolidarisierung.

Nein, Griechenland und Syrien bewegen diese Leute nicht. Was bei diesen Demonstrationen geschieht, halte ich grundsätzlich für falsch. Aber der Zulauf zu Pegida und zur AfD hat ja Ursachen. Die Agenda 2010 mit der ganzen Leiharbeit und den Minijobs, der Abbau des Sozialstaates inklusive der Privatisierung sozialer Aufgaben. Guck dir nur an, was im Gesundheitssystem los ist. Und natürlich die Steuerpolitik. Alles zusammen bringt jede Menge Unsicherheit und Zukunftsangst und damit die Entsolidarisierung auch der Mittelschicht.

Also Denkzettel.

Ja. Ich denke, dass die Leute ein Sensorium dafür haben, wie mit zweierlei Maß gemessen wird. Hier die sanktionierten Hartz-IV-Bezieher, dort die großzügige Bankenpolitik. Das ist eine Kluft, die sie spüren. Eine gewisse Unredlichkeit. Die Politik muss darauf dringend reagieren, denn das ist eine kreuzgefährliche Entwicklung.

Hast du eine Erklärung dafür, dass ausgerechnet in Ostdeutschland, dem Land des verordneten Antifaschismus, so viel braunes Gedankengut waltet?

„Verordneter Antifaschismus“, das wird gern gesagt, erfasst aber nicht die Realität, finde ich. Zu deiner Frage: Die Brüche in den Familien, die wir Maiers aktiv bewältigen konnten, wirken in anderen Familien sehr wohl. Die Kinder gehen weg, Arbeit ist schwer zu finden. Da muss man nicht lange warten, dass die Rechten mit ihren einfachen Antworten Zulauf finden.

Arm zu sein ist aber doch noch keine Rechtfertigung, rechts zu sein.

Nein, das ist keine Entschuldigung. Für Antisemitismus, Rassismus oder Fremdenhass gibt es überhaupt keine Rechtfertigung, egal ob arm oder reich.

Als wäre die DDR ein Hort der Freiheit gewesen, verachten heute viele Ostler die parlamentarische Demokratie. Wurde da was versäumt, hätten wir nach der Wende so was wie Staatsbürgerkunde für Demokratie bekommen sollen?

Na das geht ja nun gar nicht. Du kannst ja nicht die Arbeiter zur politischen Bildung einbestellen. (lacht) Aber im Ernst, die Frage ist doch, ob und wie du die Demokratie erlebst, ob und wie sie gut für dich ist. Da haben die ehemaligen DDR-Bürger nicht die besten Erfahrungen gemacht. Aber man muss auch jedem zugestehen, für sich Grenzen zu ziehen, wo er sagt: Nee, das will ich nicht erklärt bekommen, ich will mein Geld und gut. Da kommst du mit Erklären nicht weiter.

Als Kind hast du die Luftangriffe auf Dresden erleben müssen. Ich weiß, darüber sprichst du nicht gern. Aber könnte man sagen, dass dieses Erlebnis der Grundtenor deines Lebens ist?

Bei mir waren es die Luftangriffe, bei deinem Vater die Aussiedlung aus dem Sudetenland. All das zusammengenommen hat unsere Weltanschauung geprägt. Nie wieder Krieg zu wollen und ein besseres Land aufzubauen. Wir waren arm, wir haben in den ersten Jahren gehungert, aber wir hatten viel Mut. Das war das Schönste an dieser Zeit.

„Dein Vater und ich hatten Marx studiert, wir hatten uns bewusst für das ärmere, aber für uns sozial gerechtere Land entschieden. Wir wussten, wir werden gebraucht. Dieses Gefühl würde ich den jungen Leuten heute wünschen“

Angenommen, wir wären im Westen geboren worden. Welcher Partei hättest du dich dort angeschlossen?

Ich schätze, das wäre wohl eine linke SPD gewesen. Aber was ich in meinem Leben gedacht und gefühlt habe, ist natürlich nicht ohne meine DDR-Sozialisation und meine Erfahrung mit dem Krieg zu verstehen. Vielleicht wäre ich im Westen Unternehmerin geworden. Wer weiß.

Kannst du dir ein Leben ohne Politik vorstellen?

Nee, das kann ich nicht. Ich fresse ja noch jede Zeitung. Ich will wissen, wer was wo gesagt und getan hat.

Noch einmal zum Wahltag. Steinmeier oder Butterwegge?

Butterwegge. Steinmeier wird natürlich gewählt, das weiß ich. Aber ich sag mal, es hätte schlimmer kommen können. Es standen ja auch schon Schäuble und von der Leyen zur Debatte. Steinmeier hat zuletzt ganz vernünftige Standpunkte geäußert, auch was Russland angeht.

Warum wählst du ihn dann nicht?

Ich habe mich mit der Funktion des Bundespräsidenten befasst, habe mich belesen. Da steht, der Bundespräsident wirke vor allem über Reden. Er reist ins Ausland, repräsentiert das Land, zeichnet Gesetze ab. Alles gut und schön. Aber eben dieses: Er wirkt über Reden. Dafür ist der gerade verstorbene Roman Herzog mit seiner Ruck-Rede ein Vorbild gewesen. Solch eine Rede, die heute natürlich in eine ganz andere Richtung weisen müsste, traue ich Steinmeier nicht zu. Und zwar, weil er als Person zu lange und zu tief mit der jetzigen Politik verbunden ist. Selbst wenn er lernfähig wäre, was ich jedem zubillige; selbst wenn er also sagen würde, die Agenda 2010 war ein Fehler – er kann keinen gesellschaftlichen Aufbruch verkörpern. Steinmeier ist quasi diese Agenda. Und so jemanden braucht die Bundesrepublik nicht.

Ist die Personalie Butterwegge in Zeiten der schwachen Opposition im Bundestag nicht lediglich ein Aufzeigen der Linken: Wir sind auch noch da?

Ja, wichtig ist, das Signal zu setzen, dass es Alternativen gäbe. Dass es Ideen gibt, die Gesellschaft zu verändern. Mehr nicht. Butterwegge hat ja selbst gesagt, wenn er hundert Stimmen bekommt, ist das viel.

Letzte Frage: Was macht dich glücklich?

Wenn ich früh das Fenster aufmache und in meinen Garten gucke, das macht mich glücklich. Wenn ihr anruft und es geht euch gut. Wenn ich deinen Papa sehe. Das sind die kleinen Dinge. Aber mich macht traurig, wie die Welt gerade ist. Zum Glück nicht in jedem Moment. Aber ja, leider ist das so.

Anja Maier wurde 1965 in Ostberlin geboren. Sie leitet das Parlamentsbüro der taz – und hat mehrere Bücher über Mütter und Töchter geschrieben.