Mitte August 2015, einen Tag vor Eröffnung: Ehrenamtliche HelferInnen bauen Feldbetten in der Notunterkunft für Geflüchtete im einstigen Rathaus Wilmersdorf auf Foto: Christian Mang

„Der anstrengendste Teil liegt hinter uns“

Geflüchtete Holger Michel ist seit September 2015 einer der freiwilligen HelferInnen, die sich im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf engagieren. Über seine Arbeit in der zweitgrößten Notunterkunft für Geflüchtete in Berlin hat er nun ein Buch geschrieben

Interview Uta Schleiermacher

taz: Herr Michel, wie sind Sie zu der ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten gekommen?

Holger Michel: Das war völlig ungeplant. Im Sommer 2015, als Geflüchtete in den Medien jeden Tag das beherrschende Thema waren, habe ich das wahrgenommen, aber es hat mich nicht sehr interessiert. Ich war dafür, dass Deutschland Geflüchtete aufnimmt, wollte aber selbst nicht so viel damit zu tun haben. Mit Freunden auf einer Party hatten wir dann die Idee, wir gehen da morgen mal hin …

… und bei einem Nachmittag ist es dann nicht geblieben!?

Das ehemalige Rathaus Wilmersdorf war damals seit drei Wochen eine Notunterkunft. Eine so euphorisierende Einfach-loslegen-Stimmung wie dort hatte ich vorher nie erlebt. Sie haben gefragt, ob wir Sonntag wiederkommen. Und dann bin ich mit ein, zwei Ausnahmen die nächsten vier Monate quasi jeden Tag dort gewesen.

Wie haben Sie das neben Ihrem Arbeitsalltag geschafft?

Ich habe früher angefangen zu arbeiten als sonst und habe das Büro schon um 15 oder 16 Uhr verlassen, auch meine Abende habe ich im Rathaus verbracht. Es war wirtschaftlich vielleicht nicht schlau und sozial nicht immer einfach, es sind Freunde auf der Strecke geblieben. Aber ich würde es jederzeit wieder tun.

War in Berlin ein besonders großer Bedarf an freiwilligen HelferInnen?

Dass viele Menschen kamen, war weniger plötzlich als immer behauptet. Die Behörden hier waren komplett überfordert, nirgendwo sonst in Deutschland gab es solche Zustände wie am Lageso. Ich halte das für ein politisch organisiertes Chaos, entweder aus Inkompetenz oder aus Unwillen, denn die Verantwortlichen haben es ja auch später nicht geschafft, zuverlässige Strukturen aufzubauen.

Haben die freiwilligen HelferInnen zu viele Aufgaben, die die Politik hätte leisten müssen, übernommen?

Das haben wir uns von Anfang an gefragt: Machen wir es dem Staat, den Trägern, der Stadt zu einfach? Aber es ging darum, wo wir Essen, Kleidung und Schlafplätze herkriegen, weil die Verantwortlichen nicht in der Lage waren, die Menschen zu versorgen. Wir hätten natürlich sagen können, das ist die Aufgabe des Staats – doch gelitten hätten die Geflüchteten. Das wäre zu billig gewesen. Die Zivilbevölkerung muss auch mal den Hintern hochkriegen.

Die Versorgung von Schutzsuchenden ist nun mal die Aufgabe der Politik.

Wenn sie der Aufgabe aber nicht nachkommt, braucht es halt Zivilgesellschaft. Die Politik hat viel auf die Freiwilligen abgewälzt. Mir ist vor allem ein Rätsel, dass die Verantwortlichen sich nicht mehr mit den Freiwilligen ausgetauscht haben. Wir haben viele Erfahrungen gesammelt, aber für viele Politiker, auch für den Regierenden Bürgermeister, waren wir vor allem die, die genervt und gestört haben, weil wir öffentlich auf Missstände hingewiesen haben.

Dabei ist das Rathaus Wilmersdorf mit seinen Vierbettzimmern ja eine ganz gute Notunterkunft.

Wilmersdorf ist in vielerlei Hinsicht besonders. Wir waren teilweise bis zu 500 Freiwillige am Tag. Dazu kam eine extrem hilfsbereite Nachbarschaft, das hatten wir auch nicht überall, und Leute, die unglaublich schnell Infrastrukturen geschaffen haben: Räume vorbereitet, Unterricht und Kinderbetreuung organisiert, ein professionelles Sortiersystem für Spenden aufgebaut.

Haben sich auch Geflüchtete als freiwillige HelferInnen eingebracht?

Ja, sehr früh. Sie haben anfangs vor allem übersetzt, heute sind sie in allen Bereichen eingebunden. Denn wir brauchten Entlastung, und die Geflüchteten wollten etwas Produktives tun.

Die Notunterkunft: 900 Menschen leben aktuell im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf. Die Zukunft der Notunterkunft ist ungewiss. Die Verträge mit dem Träger laufen bis Ende Juni, die BewohnerInnen sollen dann in Tempohomes und Modulare Bauten in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg umziehen.

Das Buch: Autor ist Holger Michel eher unfreiwillig geworden. Nachdem er als Sprecher der Freiwilligen in den Medien in Erscheinung trat, sei ein Verlag mit der Idee an ihn herangetreten. Er lehnte zuerst ab, ließ sich dann doch überreden. „Wir machen das. Mein Jahr als Freiwilliger in einer Unterkunft für Geflüchtete“ erscheint am 9. März (288 Seiten, 15 Euro). Offiziell vorgestellt wird das Buch auf einer Diskus­sions­veranstaltung mit dem Autor am 4. April um 19.30 Uhr im Deutschen Theater. (usch)

Wie meinen Sie das, „etwas Produktives tun“?

Sie stehen ständig an, an der Dusche oder bei den Behörden. Das ist frustrierend. Wir hatten anfangs nur 20 Duschen, erst für 500, dann für 1.200 Leute. Wir haben schnell gemerkt, dass Leute, die eine Aufgabe haben, sich viel besser entwickeln, weil sie gebraucht werden, weil ihr Selbstwertgefühl steigt.

In den meisten Notunterkünften können die Geflüchteten gar nichts selbst organisieren.

Ja, und das wird auch von rechts oft ausgeschlachtet: Die Geflüchteten müssen nichts machen, werden bedient. Wahr ist: Sie dürfen nichts machen. Eine Notunterkunft hat nichts von einem Hotel. Das geht für ein paar Wochen, auch weil man schnell erkennen kann, wo die Pro­bleme sind. Aber manche leben bei uns seit mehr als einem Jahr, das ist nicht gut.

Wenn man Geflüchtete fragt, kritisieren sie oft als Erstes das Essen in den Unterkünften.

Ich habe lange auch nicht begriffen, wie identitätsstiftend Essen ist und selbst zu entscheiden, wann ich esse und was. Im Rathaus haben wir noch immer 20 Nationen, und egal wie gut das Essen ist, es gibt eben nicht die eine Küche des Nahen oder Mittleren Ostens. Die Forderung, selbst zu kochen, ist eine Forderung nach Selbstbestimmung und Würde – und daher auch politisch.

Abgesehen vom Selberkochen: Was hilft den Geflüchteten?

Es hilft alles, wodurch Menschen Wertschätzung und eine Aufgabe erhalten, und ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn man das nur durch das klassische Lehren tut. Ich muss es vor- und mitleben. Klar, Deutsch muss gelehrt werden, wobei auch das natürlich viel über einen persönlichen Austausch erfolgt. Dann werden den Geflüchteten immer wieder homophobe, antisemitische oder frauenfeindliche Einstellungen vorgeworfen. Abgesehen davon, dass ich diesen Vorwurf für unbegründet halte, hilft es, denke ich, nichts, wenn man das Grundgesetz ins Arabische übersetzt oder Vorträge hält.

Die Gesellschaft fordert, dass sich die Geflüchteten integrieren, sollten wir dann nicht Bildungsangebote machen?

Doch, natürlich! Aber es hilft eben noch mehr, wenn man Zeit zusammen verbringt, jemanden mitnimmt auf einen Geburtstag, eine Party, in die Kneipe. Wenn wir den Leuten auf einer persönlichen Ebene zeigen, was eigentlich unsere Vorstellung von Gesellschaft ist.

Sollen wir uns jetzt alle Geflüchtete als Freunde suchen?

Holger Michel

Foto: Freia Königer

36, selbstständiger Kommunikationsberater, engagiert sich seit September 2015 als freiwilliger Helfer in der Notunterkunft für Geflüchtete im früheren Rathaus Wilmersdorf. Über seine Zeit als Ehrenamtlicher hat er nun ein Buch geschrieben.

„Einen Flüchtling als Freund suchen“ – das klingt so abstrakt. Wir sollten uns kennenlernen. Integration funktioniert nur, wenn wir auch bereit dazu sind, uns auf die Menschen einzulassen. Wir müssen es nicht tun. Aber dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn sie nicht integriert sind. Bei uns haben wir ein Patenschaftsmodell aufgebaut, wir haben Treffen veranstaltet, wo man sich kennenlernen konnte. Daraus ist ganz viel entstanden.

Gab es auch Situationen, in denen Geflüchtete andere abgelehnt oder angefeindet haben?

Wir hatten von Anfang an jüdische HelferInnen, homosexuelle HelferInnen, viele Bereiche wurden von Frauen geleitet. Es gab keinen Fall, in dem etwa eine Ansage von einer Frau nicht akzeptiert wurde. Darum bin ich immer ein bisschen erstaunt, wenn ich von dramatischen Konflikten anderswo höre, und frage mich, warum das bei uns geklappt hat.

Und warum?

Ich glaube, weil wir von Anfang gewisse Dinge gar nicht zur ­Disposition gestellt haben. Bei uns hieß es: Das ist Berlin, so ist das hier. Es gab Momente, die neu waren für unsere Bewohner. Natürlich wurde am Anfang auch erstaunt geguckt. Aber wenn jemand erstaunt guckt, ist das noch kein Problem. Ein Pro­blem beginnt erst, wenn jemand etwas ablehnt oder angreift.

Was machen die vielen freiwilligen HelferInnen heute?

Der anstrengendsten Teil liegt hinter uns, aber das Ziel ist noch ein gutes Stück entfernt. Unsere Aufgaben haben sich völlig verändert. Um Essen, Betten, Kleidung muss ich mich heute nicht mehr kümmern, aber nun kommt die nächste Phase, Ablehnungen der Asylanträge, bei denen wir einspringen, Wohnungssuche, Jobs. Die Wahrnehmung, die Freiwilligen seien weg, ist falsch. Es gibt nicht mehr die Bilder, wie wir Kisten schleppen und Kuscheltiere verteilen. Aber wir sind noch da, wir helfen heute im Alltag.