Hunger in Kenia

Die Regierung spricht von einer nationalen Katastrophe: Fast 3 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen

Das Klima gefährdet das Vieh der Hirten im Norden Kenias. Sie fürchten, künftig mit kleineren Herden auskommen zu müssen Foto: Ben Curtis/ap

Dürre und Gewalt

Nomaden kämpfen um Wasserquellen und Weideland, ihre Lebensweise ist bedroht. Der Wahlkampf verschlimmert die Lage, die Regierung lasse sie im Stich, klagen Hirten

Aus Baringo Ilona Eveleens

Zwei abgemagerte Kühe trotten auf dem Spielplatz der Moinonim-Grundschule herum. In ihrem Gefolge läuft eine Gruppe Männer und Frauen. Sie gehören zu den Tugen und Massai, Nomadenvölker im Dis­trikt Baringo im Westen Kenias. Sie bilden einen Halbkreis und schauen zu, wie mit scharfen Messern die Hälse der Tiere durchgeschnitten werden.

Die Kühe brechen langsam zusammen. Ihr Blut färbt die trockene Erde dunkelrot. Kurze Zeit später beginnen zwei Männer, die Tiere in Stücke zu schneiden. „Es gibt kaum Fleisch“, sagt einer von ihnen und schüttelt den Kopf.

An Kenia denken wenige, wenn es um die sich ausbreitenden Hungerkatastrophen in Ostafrika geht. Südsudan und Somalia stehen im Fokus der internationalen Hilfsappelle – Kenias Hauptstadt Nairobi ist eher der Ort, von dem aus die Hilfe für die Nachbarländer koordiniert wird. Aber auch in Kenia selbst benötigen fast 3 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Die Regierung in Nairobi spricht von einer nationalen Katastrophe.

Zu den Hilfsmaßnahmen der Regierung gehört es, Hirten ihr geschwächtes Vieh abzukaufen und zu schlachten. Die Viehhirten verdienen etwas, das Fleisch geht an Hungernde. Die meisten Menschen auf dem Schulplatz am Rande des Orts Campi ya Samaki haben seit über einen Tag nichts gegessen.

„Ich erlebte meine erste Dürre im Jahr 1965“, erinnert sich Micah Chebii, der Älteste und legt den Kopf in die Hände. „Sie kamen immer schneller wieder. Es ist jedes Mal das Gleiche. Der Regen bleibt weg, unser Vieh stirbt, und wir müssen um Essen betteln. Wenn der Regen wiederkommt, bauen wir wieder unsere Herde auf und leben sorglos – bis zur nächsten Dürre.“

Die weite Landschaft von Baringo, wo ironischerweise auch zwei große Seen liegen, sieht trostlos kahl aus. Es gibt kaum einen verwelkten Grashalm. Auch die Ziegen, normalerweise Überlebenskünstler während Dürren, sind mager und knabbern am Holzzaun.

Auf dem Schulhof liegt ein leerer Wassertank. Eine der Frauen verlässt plötzlich den Kreis um das geschlachtete Vieh: Sie hat etwas im Tank glitzern sehen, im Sonnenlicht. Tatsächlich: Es gibt da noch ein wenig Wasser. Sorgfältig birgt Agnes Nangurai die kostbare Flüssigkeit aus dem Tank und gießt sie in einen Behälter. „Was für ein Glück, dass die anderen das nicht gesehen haben“, sagt sie mit einem schwachen Lächeln.

„Wir wissen, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen“

Jonas Kacheta Kirati, ClanÄltester

Die Frau ist Witwe. Ihre Söhne sind mit dem verbliebenen Viehbestand fortgegangen, auf die Suche nach Weideland und Wasserquellen. „Sie sind sehr weit weg. Ihre Frauen und ich sind zurückgeblieben, um uns um die Kinder zu kümmern. Aber dann mussten wir hierher fliehen wegen den Angriffe.“

Nicht nur Dürre und Hunger haben etwa 200.000 Menschen in Kenia gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, sondern auch Gewalt. Der trockene, dünn besiedelte Norden Kenias ist, anders als die Südhälfte mit den großen Städten, ein Dauerkonfliktgebiet: Die nomadischen Völker kämpfen seit Generationen miteinander um schrumpfende Weiden und schwindende Wasserquellen. Inzwischen sind manche von ihnen schwer bewaffnet und dringen gewaltsam in private Farmen und Wildparks ein.

„Die Pokot sind Nomaden und leben im Nachbarbezirk“, erläutert Massai-Aktivist Amos ole Mpaka die Konstellation im Distrikt Baringo. „Sie haben Tausende von Rindern in Baringo gestohlen und einige Leute getötet, darunter eine Mutter und ihre drei Tage altes Baby. Das sorgte für große Angst unter anderen Tugen und Massai. Sie sind in größere Ortschaften geflohen.“

Auf den Bergen und in den Tälern des Distrikts gibt es kaum noch Menschen. Diejenigen, die man sieht, haben eine Flasche oder einen kleinen Behälter bei sich – für den Fall, dass sie auf Wasser stoßen.

In einem Weiler zwanzig Kilometer weiter nördlich haben die Clan­äl­tes­ten der Massai von Baringo eine Dringlichkeitssitzung angesetzt. Sie sitzen unter einem schattigen Baum auf Plastikstühlen, eine Kiste mit lauwarmem Sprudel soll den Durst löschen. Ein paar dürre Ziegen und Schafe suchen vergeblich hinter den Stühlen nach etwas zu fressen auf der nackten und staubigen Erde.

„Wir sind uns einig, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen“, so fasst der Clanälteste, Jonas Kacheta Kirati, die Beratungen zusammen. „Das ist der einzige Weg. Wir brauchen Hilfe von der Regierung, aber die tut selten etwas für die Nomaden“, sagt er.

Die Massai-Ältesten sind sich einig, dass sie ihre geliebte nomadische Existenz werden aufgeben müssen. Sie wollen nun Zuchtgemeinschaften bilden, wo sie ihre Herden zusammenlegen.

„Wir müssen uns dann einigen, wie viele Kühe jedes Mitglied haben kann, damit die Tiere das ganze Jahr über genügend Futter und Wasser haben. Das bedeutet ganz bestimmt weniger Kühe“, erklärt Kirati das Konzept. „Wir wollen auch unsere Kühe kreuzen mit anderen Rassen, die resistenter gegen extreme klimatische Bedingungen sind.“

Das wären tiefe Einschnitte für diese Hirtenvölker, die seit jeher im Rhythmus von Trocken- und Regenzeit mit ihren Tieren wandern, auf der Suche nach Gras und Wasser. Kühe, Kamele, Ziegen und Schafe sind der Reichtum der Nomaden. „Es ist nicht unser Wunsch, etwas zu ändern, aber die Natur zwingt es uns auf. Man kämpft nicht gegen die Natur, man gehorcht ihr“, philosophiert Kirati und sinkt tief in seinen Plastikstuhl. Die anderen starren schweigend vor sich hin.

Die Clanältesten wollen, dass die Regierung die Gemeindeländereien unter den Nomaden verteilt, komplett mit Eigen­tums­urkunden. Und, ganz wichtig: Die Regierung müsse die Grenzen zwischen den Siedlungsgebieten der verschiedenen nomadischen Völker markieren.

Denn manche missbrauchen die Dürre für ihre territoriale Expansion: Weil die meisten Männer weggezogen sind mit dem Vieh, ist es leicht für Krieger anderer Völkern, die verbliebenen Frauen und Kinder aus ihren angestammten Gebieten zu vertreiben. Das geschieht nicht nur in Baringo, sondern auch in anderen Teilen Kenias, wo allein in den letzten Wochen Dutzende Menschen getötet wurden.

UN-Hilfsappell: Die Hilfswerke der Vereinten Nationen haben am Mittwoch einen neuen Hilfsappell für Kenia veröffentlicht. 165,71 Millionen US-Dollar (154,4 Millionen Euro) würden benötigt, um in den nächsten zehn Monaten 2,6 Millionen Menschen zu versorgen, hieß es. Der Ausfall der „kleinen Regenzeit“ Ende 2016 habe zu einem allgemeinen Rückgang der Lebensmittelproduktion geführt.

Hunger in Ostafrika: Insgesamt brauchen nach UN-Angaben in ganz Ostafrika zwischen 16 und 23 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Am schwersten betroffen sind die Bürgerkriegsländer Somalia und Südsudan, aber in der ganzen Region hat das El-Niño-Phänomen zu Wetterextremen geführt.

Die nächste Regenzeit: Experten befürchten, dass auch die kommende „lange Regenzeit“ schlechter ausfällt als normal. Dann könnten in einem halben Jahr in Kenia bis zu 4 Millionen Menschen Hilfe benötigen.

Das Zusammentreffen von Dür­re und Wahlkampf verschlimmert die Situation, glaubt der Massai-Aktivist Amos ole Mpaka. Er kandidiert in Baringo für den lokalen Parlamentssitz: Im August wird in Kenia gewählt. Das ist nicht ungefährlich. Zwei andere Kandidaten in Baringo wurden Ende Februar getötet. Die Vermutung ist, dass etablierte Politiker hinter den Morden stecken, um Rivalen auszuschalten. In Baringo sind die Massai eine Minderheit. Die meisten leben im Süden des Landes, manche dienen als Foto­kulisse für weiße Safaritouristen.

Die Vertriebenen in Campi ya Samaki haben wenig Vertrauen in die Politiker. „Sie tun viel zu wenig, um die Auswirkungen der Dürre erträglicher zu machen. Sie denken nur an sich selbst. Die Regierung müsste Dämme bauen, damit wir mehr Wasser haben. Im Moment fließen die Flüsse schnell abwärts ins Meer, weit weg von hier“, grummelt der Clanälteste Micah Chebii.

Er nimmt sein Stück Fleisch, steckt es in eine Plastiktasche und geht. Die lokalen Behörden haben den Vertriebenen zwar angeboten, in der Schule zu wohnen. Die meisten bevorzugen aber Höhlen in den umliegenden Berge oder ein Versteck in den verwelkten Büschen: In den Schulgebäuden wären sie Zielscheiben, falls die Pokot die Dorfbewohner wieder angreifen sollten.

„Der Hunger ist der gleiche hier und dort“, rechtfertigt sich der alte Micah Chebii. „Und wir können nicht auf Polizeischutz rechnen. Die Polizei hat selbst Angst vor den Pokot mit ihren Maschinengewehren.“