EntscheidungEmmanuel Macron liegt in den Umfragen zur französischen Präsidentschaftswahl vorn. Ist er ein Neoliberaler, ein Gaukler oder die Rettung Europas?
: Magie gibt es nicht

In Les Mureaux, in einer französischen Banlieue, trifft der Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron Leute aus der Gegend. Was er ihnen denn zu versprechen habe, fragt einer. „Gar nichts“ Foto: Lionel Préau/Riva Press/laif

Aus Paris, Les Mureaux und Berlin Peter Unfried

An einem Abend im März betrat ich die Bar Le Celtique in Les Mureaux. Sie liegt in der Rue Jean-Jaurès, eine graue Ecke in einem gar nicht pittoresken Städtchen. Man zuckelt mit dem Vorstadtzug aus der Pariser Innenstadt bloß eine halbe Stunde Richtung Westen – und ist in einer völlig anderen Welt. Man ist in Frankreich. Manche nennen Les Mureaux „Problem-Banlieue“.

Vor der Bar parkt der große schwarze Renault des Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron. Drinnen hängen Journalisten an der Bar und streicheln intensiv ihre Mobiltelefone. Macron sitzt an einem großen Tisch und spricht mit Einheimischen. Die meisten sind um die dreißig, mehrheitlich nicht weiß und selbstverständlich sorgfältig ausgewählt. „Rolemodels“ steht auf dem Medienbriefing.

Les Mureaux kam im EM-Sommer 2016 auf die mediale Landkarte, als der Vizepolizeichef der Gemeinde und seine Frau von einem jungen Mann ohne Arbeit, Schulabschluss und Anerkennung bestialisch gekillt wurden. Es ist keine klassische Sozialbausiedlung, der hässlichste Block ist weggesprengt, Millionen an Staatsgeldern wurden zuletzt in Infrastruktur gesteckt. Macron sagt, er wolle nicht in Strukturen investieren, sondern so in den Einzelnen, dass er die Banlieue verlassen könne. Und zwar nicht mit dem Polizei- oder Leichenwagen.

Viele Europäer etikettieren die französische Präsidentenwahl am 23. April als „Schicksalswahl“. Die These lautet: Wenn die autoritär-nationalistische Marine Le Pen gewinnt, ist das europäische Projekt so gut wie erledigt. Die beiden klassischen Volksparteien zerlegen sich in Frankreich selbst. Und die grundsätzliche Frage ist, ob diejenigen, die die autoritäre Bedrohung haben groß werden lassen, die Richtigen sind, um sie in den Griff zu bekommen. So steht Macron plötzlich als letzte Hoffnung Europas da.

Ist er nur der derzeit nachgefragte Typus „Außenseiter von innen“, wie der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz, also die Vorstellung, dass ein neues Gesicht schon neue Politik ist? Oder gibt es etwas wirklich Neues bei Macron – und wen zieht es an?

Als ihn einer der Leute von Les Mureaux fragt, was er ihnen denn zu versprechen habe, antwortet er: „Gar nichts“. Er ist gekommen, um zuzuhören.

Und das kann er gut. Für einen Superchecker sogar richtig gut. Er dreht dann sein Gesicht dem anderen zu, hält den Blick und unterbricht auch nicht, wenn der sich als Schwafler herausstellt.

Große Reden schwingt er bei den dafür entwickelten Gelegenheiten. Etwa als er in Paris sein Programm vorstellt mit dem Titel „Mein Vertrag mit der Nation“. Was er darin skizziert, was er verkörpert, mit seinem guten Englisch, seinem betonten Weltblick, das ist der Aufbruch in ein geistig, kulturell und ökonomisch offenes europäisches Frankreich, das sich nicht mehr ausschließlich um sich selbst dreht und aufhört seine Zukunft in seiner Vergangenheit zu suchen. Er steht für den europäischen Traum als Grundlage der Fortsetzung des französischen Traumes.

Macron tritt ohne etablierte Partei an, das ist in Deutschland im Moment nicht vorstellbar. Er hat – strategisch wohlüberlegt und glänzend inszeniert – eine „Bewegung“ gegründet. „En Marche“, auf geht’s. Eine sechsstellige Zahl ist Teil dieser Bewegung, aber dafür muss man sich auch nur auf der Website anmelden.

Selbstverständlich ist Macron Elite. Er ist zwar nicht reich geboren, aber er hat die Top-Ausbildung der wenigen Privilegierten, die Frankreich unter sich aufteilen. Das Geldverdienen hat er zügig erledigt – er wurde als Banker bei Rothschild wohlhabend, als er eine milliardenschwere Firmenübernahme für Nestlé managte. So muss er den Staat nicht wegen ein paar tausend Euro bescheißen, wie man es seinem konservativen Gegner François Fillon vorwirft.

Die Anstellung als Wirtschaftsminister des derzeitigen Präsidenten François Hollande hat Macron gekündigt, um es selbst besser zu machen. Er ist ein Intellektueller und hat Humor. Seine Frau ist vierundzwanzig Jahre älter als er. Das hat man auch in supergeschlechterliberalen Milieus so gut wie nie. Trotzdem ist er alles andere als Rock’n’ Roll. Eher Super-Schwiegersohn. Wenn man ihn im dunkelblauen Anzug und hellblauen Hemd – sein üblicher Dresscode – durch einen Kindergarten gehen sieht oder nach vorn gebeugt auf einem Stuhl als Teil eines Stuhlkreises sitzen, dann kommt einem schnell der Gedanke, ob nicht ein bisschen viel von ihm erwartet wird.

Macron ist 39, viel jünger, als je ein Präsident war. Genau das zieht Jüngere an.

Im Pariser Innenbezirk Le Marais, ideal zwischen Centre Pompidou und Place de la République gelegen, kann man wunderbar Weltstadtflair aufnehmen. Berlin fühlt sich provinziell dagegen an. Mehr urban-liberal-säkular-postmaterialistische Idylle geht kaum. Als gutbezahlter Wissensarbeiter lebt es sich wie Gott in Frankreich. Dieser Mittvierziger in Jeans und Journalisten­sakko etwa, Kosmopolit mit britischem Pass und amerikanischer Frau, lebt seit Jahren hier. Morgens bringt er mit dem Fahrrad die Kinder zur Schule, dann trifft er in der Rue de Turenne noch jemanden zum Kaffee auf dem Weg zum Schreibtisch. Zum Beispiel mich jetzt.

„Der französische Traum“, sagt mein Kosmopolit, „ist eine Festanstellung und eine gute Rente. Ein Ferienhäuschen und ein langer Sommerurlaub.“ Für die Mittelschichtskinder heißt das: ein Leben, so wie die Eltern das auch haben oder hatten.

Aber der Kellner, der jetzt an unseren Tisch kommt, kriegt 1.500 Euro und wird offenbar immer dann rausgeschmissen, wenn die Festanstellung fällig wäre. Die Gesetzgebung ist aus Sicht des Kleinunternehmers so rigide, dass er sich das Risiko einer festen Anstellung nicht leisten kann. Deshalb rotiert der Kellner in die nächste Kneipe, zwinkert einmal und ist vierzig. Auch mit weißer Hautfarbe und ordentlicher Bildung.

Bleibt Emmanuel Macron zu unscharf?

„Macron will für Tiere und Jäger anschlussfähig sein, das ist kompliziert“

Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit

Das Grundproblem ist, dass die französische Industrie an Potenz verloren hat. Durch die Globalisierung. Und durch die nach den liberalen Arbeitsmarktreformen von Rot-Grün durchgestartete deutsche Wirtschaft. Dann wird der französische Staat offenbar so multiparallel verwaltet wie die ARD, Privilegien sind fest verschraubt und die untereinander konkurrierenden Gewerkschaften klammern verständlicherweise auch am Status quo. Der Fokus der französischen Arbeitsmarktpolitik liegt auf einem hohen Mindestlohn für die, die Arbeit haben. Die Kehrseite ist eine hohe Arbeitslosigkeit.

Und hier hat Emmanuel Macron den Sehnsuchtskern ausgemacht, der ihn in den Élysée-Palast bringen soll – junge Franzosen, die mit und durch ihn an eine bessere Zukunft glauben. „Jeunes avec Macron“ heißt die Kampagne. Solche Exemplare existieren wirklich, sie arbeiten bei seinen Veranstaltungen oder machen eigene. Sie strahlen dabei wie kalifornische Studenten am Strand, und das kommt selbstverständlich gut.

Er benutzt das Wort des Teufels

Für seine junge Kundschaft propagiert Macron eine Arbeitsmarktpolitik, die ihre Chancen auf ordentliche Anstellung stärken soll. An jeder Ecke ruft er: „Flexibilität“.

Das ist mutig, denn es gilt als des Teufels Wort. Nicht nur für Sozialisten. Es wird gleichbedeutend mit „neoliberal“ benutzt – dass es „Flexi-Security“, Sicherheit und Wandel geben kann, glauben die Leute nicht. Entweder oder. Die Sozialisten wollen Macron daher als Büttel des Kapitals darstellen, der im Arsch der Unternehmer sitzt. Die Konservativen halten ihn wirtschaftspolitisch für sozialdemokratisch und greifen vor allem seine gesellschaftspolitische Liberalität an. Für sie ist er ein Linker, der die kulturellen Werte des traditionellen Frankreich bedroht.

Im Gegensatz zu beiden und zu den meisten angeblichen Neuerfindungen von Politik, ist Macron doppelt liberal. „Ni, ni“ ist sein Slogan: Nicht rechts, nicht links. Sondern vorn, logisch. Das hat man von den deutschen Grünen schon 1980 gehört. Wurde nur nie eingelöst. Macron versucht liberale Bürgerrechte, Einwanderungspolitik, Lebensstile mit einer Wirtschaftspolitik zu verbinden, die liberal, aber eben nicht neoliberal ist.

Er will den Staat nicht verschwinden lassen. Er weiß auch, dass der Schwur auf das Sicherheitsbedürfnis die Grundlage jeder Wohlstandsmehrheit ist. Die 35-Stunden-Woche, im Guten wie Schlechten das Symbol des Status quo, will er nicht wirklich in Frage stellen, das Rentenalter – in Frankreich bei 62 – auch nicht. Etwas weniger Beamte will er. Manche sagen, so weit wie Macron seit der Sozialist Michel Rocard bereits in den späten Siebzigern gewesen mit seiner linksliberalen Modernisierungsvariante. Rocard war der erste Linke, der bereits vor der Wahl realistisch war und damit gewinnen wollte. Er verlor gegen Mitterrand, der nach der Wahl realistisch wurde.

„Macron ist eine Täuschung“, sagt Philippe Marlière, ein französischer Politologe, am Telefon in seinem Haus in Nord-London. Ökonomisch sei da nichts mit Anti-System, alle Ideen seien eingebettet in das gescheiterte wirtschaftspolitische Konzept der Hollande-Regierung. Mehr noch: Er verantworte in der Zeit als Wirtschaftsminister das „Macron-Gesetz“, die von links am stärksten kritisierte Arbeitsmarktpolitik. Mit seinen alten Arbeitsmarktrezepten werde sich die Arbeitlosigkeit nicht bekämpfen lassen. Es sei vielmehr wie bei der Schröder-SPD: Die Linke mache die Arbeit der Rechten.

Macron sei „der Darling des Big Business, des Establishments und der Mainstream-Medien“. Das stimmt: Viele Wirtschaftsführer drängen sich jetzt bei Macron rein, und die meisten Nachrichtenmedien sind Anhängsel von Großunternehmen mit globalen Geschäftsinteressen, das passt. Man sollte vielleicht trotzdem erwähnen, dass Marlière Berater der französischen Sozialisten ist.

Die französische wie auch die deutsche Gesellschaft haben sich kulturell konditioniert auf die Links-rechts-Schiene, genauer gesagt halblinks vs. halbrechts. Sowie die SPD in zwei Phasen unionsgeführte Regierungen unterbrach, so regierten in der fünften französischen Republik, die 1958 mit einer neuen Verfassung begann, zwei Mal die Sozialisten. Erstmals von 1981 bis 1995 und ab 2012 durch Hollande.

Das Ergebnis der fünf Jahre: Die Sozialisten sind ziemlich erledigt. Aus Sicht der Partei- und Salonlinken selbstverständlich, weil Hollande „nicht links genug“ war. Jetzt haben sie sich gespalten und einen richtigen Linken namens Benoît Hamon aufgestellt. Mit seinem hardcore-sozialistischen Programm inklusive Ökofaktor und bedingungslosem Grundeinkommen ist Hamon der natürliche Kandidat der Liberation-Leser, also der linken Pariser Bobos, die bourgeoisen Bohèmiens, wie man gern sagt.

Einerseits ist Hamon ein klares Statement. Andererseits hat er die Parti Socialiste damit marginalisiert. Für Wahlen braucht auch der Kern des zentralistischen Landes Allianzen mit dem Rest und seinen Bewohnern. Dieses Frankreich, das sind auch nicht die Pariser Banlieues, das nennt man „la France profonde“ (das tiefe Frankreich). Es besteht aus Städtchen und Orten, gegen die die Schwäbische Alb von kultureller und wirtschaftlicher Moderne durchdrungen ist. (Ist sie ja auch.)

Darf man Macron als kleineres Übel betrachten?

Wenn Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewinnt, ist das europäische Projekt so gut wie erledigt. Aber taugt der liberale Emmanuel Macron zum Retter des Abendlandes? Foto: Jean-Bernard Vernier/Polaris/laif

Manche bei Libération munkeln, dass Hamon diese Wahl nur als ersten Stein sieht, den er ins Feld legt, um in einer veränderten politischen Landschaft nach der Wahl als klare Alternative zum dann Regierenden den Wahlsieg 2022 vorzubereiten.

„Ach, Quatsch“, sagt Daniel Cohn-Bendit, „wenn Macron gewinnt, explodiert die politische Landschaft Frankreichs“. Cohn-Bendit, langjähriger Vorsitzender der Grünen im EU-Parlament, war der bisher Letzte, der die französische Erde zu einem sanften Beben gebracht hat. Bei der Europawahl 2009 holte er 16,3 Prozent, und zwar mit einem euphorischen Grünen Wir-schaffen-das-Wahlkampf. Gerade geht er durch das Stadtzentrum von Clermont-Ferrand, telefoniert und macht gleichzeitig Straßenwahlkampf für Macron. Ein sozialistischer Wähler vertraut Macron nicht und brummt, er wähle ihn dann vielleicht im zweiten Wahlgang. „Ist ja schön und gut“, ruft Cohn-Bendit, aber Le Pen werde immer hasserfüllter, deshalb müsse er ihn schon im ersten Wahlgang wählen.

Damit sind wir beim Problem französischer Präsidentschaftswahlkämpfe: Dem Modus, der die beiden Erstplatzierten in eine Stichwahl schickt. Vor dem ersten Wahlgang gibt es vier Lager: Eines wird die autoritär-nationalistische Marine Le Pen vom Front National wählen, eines den konservativen François Fillon, eines wird links wählen und eines Macron. Front National und Sozialisten machen jeweils etwa 25 Prozent aus, aber das linke Lager spaltet sich in Hamon und Jean-Luc Melenchon. Melenchon ist eine Art Ein-Mann-Show. Er tritt für seine Bürgerbewegung „Das widerständige Frankreich“ an und hat die Parti de Gauche (Linkspartei) gegründet – in etwa der deutschen Linkspartei entsprechend, nur noch offener Anti-EU.

Damit ist Le Pen nach den meisten Voraussagen gesetzt und Hamon chancenlos.

Wer also getreu seiner politischen Überzeugung oder seinem Stallgeruch Hamon wählt, riskiert – je nach der tatsächlicher Auswirkung von Fillons Betrugsaffäre – dass es sich im zweiten Wahlgang zwischen der Rechtspopulistin Le Pen und Fillon entscheidet, der wirtschaftsliberal plus kulturkonservativ ist. Also aus linker Sicht ein doppeltes Übel, während Macron nur ein einfaches Übel darstellt. Trotzdem fühlt es sich nicht richtig an. Was tun? Darüber grübelt das Libération-Milieu.

Vielleicht ist jetzt tatsächlich der historische Moment, in dem die Halblinks-halbrechts-Kultur abgelöst wird von einer neuen gesellschaftlichen Dichotomie: offene Europäer gegen protektionistische Nationalisten. Die soziale Frage ist darin eingebettet. Wohlstand, Gerechtigkeit, soziale Sicherheit versprechen ja auch die Autoritären. Es geht um den Weg und die Mittel. Der österreichische Bundespräsidentenshowdown zwischen dem ökosozialliberalen Van der Bellen und dem autoritären Hofer war der Prototyp dieser Konstellation. Zwar taten SPÖ und ÖVP danach ein weiteres Mal, als sei alles beim Alten, aber in Frankreich ist der Präsident kein Symbol, sondern die Machtzentrale. Nach der Parlamentswahl im Juni könnte der Reset-Knopf gedrückt werden.

An einem Donnerstag im März ist Emmanuel Macron in Berlin. Erst bei Kanzlerin Merkel, das zeigt seine Wertigkeit, dann bei Starbucks, das zeigt seinen Kaffeegeschmack. Jetzt sitzt er neben Jürgen Habermas, der 1968 in Frankfurt Assistent Ador­nos war und als wichtigster deutscher Philosoph der letzten fünfzig Jahre gilt. Also als linksliberal.

Macron hat Habermas wirklich gelesen, sagt er. Er ist sogar Fan. Es war ein Journalistentraum, die beiden zusammenzubringen. Ein deutscher Paris-Korrespondent war ganz nah dran. Nun schafft es eine internationale private Manager-Schule. Habermas ist 87, nuschelig, hellwach und ausgesprochen höflich zu Macron.

Für Habermas ist die „tickende Zeitbombe“ der europäischen Spaltung die durch das Euro-Wirtschaftssystem entstandene „dramatische“ Asymmetrie zwischen Norden und Süden. Mit der EU-Austeritätspolitik der Union-SPD-Koalition in Berlin und der konservativ-sozialdemokratischen in Brüssel werde man es nicht schaffen. Die Länder, die durchhängen, dürften nicht mit Spar-Reformen stranguliert werden, sondern müssten investieren können. So ähnlich sagt das Macron auch. Das Neue ist, dass er sich „verpflichtet“, mit Frankreich in Vorleistung zu gehen und ausgesessene Reformen anzugehen. „Wir müssen Vertrauen herstellen, dass es nicht mehr gibt“, sagt er.

Macht: Der französische Präsident ist kein bloßer Repräsentant, sondern die große politische Machtfigur. Zum Beispiel kann er erzwingen, dass über bereits verabschiedete Gesetze weiter beraten wird.

Modus: Der Präsident wird direkt gewählt. Der erste Wahlgang ist am 23. April. Hat keiner die absolute Mehrheit, kommen die zwei führenden Kandidaten in die Stichwahl am 7. Mai.

Kandidaten: Elf. Fünf sind relevant. Nach letzten Umfragen liegen Marine Le Pen (Front National) und Emmanuel Macron (En Marche) bei etwa 25 Prozent. Der Konservative François Fillon hat 18 Prozent, die Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise) und Benoît Hamon (Sozialisten) je etwa 13 Prozent.

Macron war in diesem Jahr schon mal in Berlin. Kurz vor einer Europa-Rede an der Humboldt-Uni saß er mit Cohn-Bendit im Büro von Joschka Fischer und die beiden European Statesmen sagten ihm, ein zentrales Problem der EU bestehe darin, dass die Deutschen die Franzosen für unfähig halten und die Franzosen die Deutschen für die Unterdrücker Europas. Es brauche jemand, der wieder Vertrauen schaffen könne zwischen den beiden. Am Ende sagte Macron: „Ich habe verstanden.“

Auf dem kurzen Weg zur Uni änderte er seine Rede, baute den Philosophen Emmanuel Levinas ein und dessen zentralen Gedanken: „La confiance c’est le problème de l’autre“ („Das Vertrauen ist das Problem des anderen“). Diesen Gedanken der Anerkennung als Voraussetzung für Vertrauen formuliert er seither und entwickelt ihn dabei permanent weiter. Mit dem politischen Ziel, durch seine Vertrauensaussagen die Deutschen dazu zu bringen, sich im Vertrauen auf ihn auch zu bewegen. Ganz profan: Aus seiner Sicht muss Deutschland die Löhne erhöhen, damit die Kaufkraft besser wird und das Land mehr importiert.

Macron sei wahnsinnig schnell im Kopf, sagt Cohn-Bendit, der ihn mittlerweile recht gut kennengelernt hat. Die häufig kritisierte Unschärfe? „Macron will für Tiere und Jäger anschlussfähig sein, das ist kompliziert.“ Und seine Schwachstelle? „Er sieht, dass manche Spaltungen zwischen links und rechts keinen Sinn mehr machen, aber er sieht nicht, wo es doch Grenzen gibt.“ Die Magie bestehe darin, einen Kompromiss zwischen der Freiheit der Unternehmen und der Sicherheit der Beschäftigten zu finden.

„Es wäre Magie, wenn es Magie gäbe“, sagt Cohn-Bendit. Er wird ihn trotzdem wählen.

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben, hat Joan Didion geschrieben, die grandio­se Chronistin des Aufbruchs einer US-amerikanischen Teilgesellschaft in den 60ern und 70ern. „Wir interpretieren, was wir sehen, wir wählen unter den vielfältigen Möglichkeiten die brauchbarste aus.“ Dann folgt eins schön und beruhigend aus dem anderen. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem man an der Brauchbarkeit der alten Geschichtsversionen zweifelt, auf deren Fundament alles steht. Dieser Moment ist jetzt.

Deshalb ist die Frage nicht, ob Emmanuel Macron ein Neoliberaler ist, ein Gaukler, ein Supermann oder die Rettung des Abendlandes. Zunächst einmal ist er eine neue Geschichte, mit der wir uns erzählen, dass wir es anders und besser hinkriegen können. Mit Europa und als Europa.

Es gibt schlimmere Geschichten.

Peter Unfried, 53, ist Chefreporter der taz. Er steht voll auf Paris